Evolution
schnell. Sogar Noth, der rangniederste Neuling, stellte endlose
instinktive Kalkulationen über die Stärke und Konstitution
des Kaisers an. Der Trieb, sich zu paaren und Nachwuchs zu zeugen, um
den Fortbestand seiner Linie zu gewährleisten, war bei Noth
genauso stark wie bei allen anderen Männchen. Bald würde
der Kaiser sicher auf einen Herausforderer treffen, dem er nicht
gewachsen war.
Doch fürs Erste war Noth noch nicht in der Position, den
Kaiser oder eins der anderen stärkeren Männchen
herauszufordern, die in der sozialen Hierarchie über ihm
standen. Und er sah, dass der Bestand der Podocarp-Früchte
schnell schwand.
Mit einem frustrierten Ruf rannte er über den Waldboden und
kletterte auf einen Baum. An den Ästen, die von Reif, Tau und
Flechten glitschig waren, hingen keine Blätter und Früchte
mehr. Aber es bestand vielleicht immer noch die Möglichkeit,
Speicher mit Nüssen oder Samen zu finden, die Waldtiere
vorsorglich angelegt hatten.
Er kam zu einem Loch in einem abgestorbenen Baumstamm. In der
feuchten, modrigen Höhlung sah er den Schimmer von Nussschalen.
Er griff mit den kleinen, beweglichen Händen hinein und holte
eine Nuss heraus. Die runde Schale war fugenlos und intakt. Er
schüttelte die Nuss und hörte den Kern darin rasseln. Das
Wasser lief ihm im Mund zusammen. Doch als er hineinbiss, glitten die
Zähne an der glatten harten Oberfläche ab. Verwirrt
versuchte er es von neuem.
Plötzlich ertönte ein lautes Zischen. Mit einem Schrei
ließ er die Nuss fallen und flüchtete sich auf einen
höheren Ast.
Eine Kreatur von der Größe einer großen Hauskatze
kroch unbeholfen auf das Nussversteck zu. Es schaute zu Noth auf und
zischte erneut, wobei es einen rosigen Rachen mit kräftigen
oberen und unteren Schneidezähnen entblößte. Mit
einem Ausdruck der Zufriedenheit, dass es den Konkurrenten vertrieben
hatte, holte das Geschöpf eine der Nüsse aus dem Vorrat
heraus und knackte die Schale mit dem kräftigen Gebiss. Dann
biss es auf der Schale herum und erweiterte das entstandene Loch.
Schließlich gelangte es an den Kern und knabberte ihn
geräuschvoll. Noth, der sich hinter dem Baumstamm versteckt
hatte, wurde vom Schwall des süßen Aromas schier
überwältigt.
Dieses Ailuvarus sah annähernd aus wie ein rudimentäres
Eichhörnchen mit einem mausartigen Gesicht. Es hatte einen
langen buschigen Schwanz, mit dem es wie mit einem Fallschirm den
Sturz abbremste, wenn es vom Baum fiel – was oft geschah. Obwohl
es nicht die biegsamen Hände und Füße eines Primaten
hatte und kein sehr guter Kletterer war, hätte es wegen seiner
Größe Noth mit Leichtigkeit abzuwehren vermocht.
Das Ailuvarus war eins der ersten Nagetiere. Die große
robuste Familie war ein paar Millionen Jahre zuvor in Asien
aufgetaucht und hatte sich dann über die ganze Welt verbreitet.
Diese streiflichtartige Begegnung war ein Scharmützel am Anfang
eines epochalen Kampfs um Ressourcen zwischen den Primaten und den
Nagetieren.
Und die Nagetiere gingen jetzt schon als Sieger aus diesem Kampf
hervor.
Einmal gelangten sie leichter an Nahrung als Primaten. Noth
hätte einen Nussknacker gebraucht, um Hasel- oder Walnüsse
zu essen und einen Mühlstein, um Körner wie Weizen oder
Gerste zu verarbeiten. Doch die Nagetiere mit den starken und immer
längeren Schneidezähnen vermochten selbst die
härtesten Nussschalen und Spelzen zu knacken. Und bald
würden sie auch die besten Früchte von den Bäumen
fressen, ehe sie noch reif waren.
Und nicht nur das, die Nagetiere vermehrten sich auch viel
stärker als die Primaten. Dieses Ailu vermochte in einem Jahr
ein paar Würfe zur Welt zu bringen. Viele Junge verhungerten
zwar, unterlagen im Konkurrenzkampf mit ihren Geschwistern oder
fielen Vögeln und Fleischfressern zum Opfer. Aber es
überlebten trotzdem genug, um die Linie fortzuführen. Dem
Ailu bedeuteten seine Jungen weniger als dem Notharctus, das nur
einmal im Jahr trächtig wurde und für das der Verlust auch
nur eines Jungen eine Katastrophe war. Und die große
Nachkommenschaft der Nagetiere bot den blinden Schöpfern der
natürlichen Auslese jede Menge Rohmaterial; sie entwickelten
sich in atemberaubendem Tempo.
Obwohl Primaten wie Noth viel intelligenter waren als Nagetiere
wie das Ailu, vermochte seine Art nicht mit ihnen zu
konkurrieren.
Es waren nicht nur die Plesiapiden, die in Nordamerika selten
wurden. Es war nämlich kein Zufall, dass Noths Art in diesen
peripheren Polarwald abgedrängt worden war.
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