Evolution
Sie hatten
nichts mit ihm zu tun.
Diese aneinander gekuschelten Notharctus waren trotz der
körperlichen Nähe einsamer, als ein Mensch es je sein
würde. Noth war für immer im Gefängnis seines Kopfs
eingesperrt und gezwungen, seine Sorgen und Nöte allein
auszuhalten.
Der Tag brach an, aber ein eisiger Nebel lag über dem Wald.
Auch wenn die Sonne hell strahlte, spendete sie kaum Wärme.
Die Notharctus reckten und streckten sich nach den langen Stunden,
die sie unbeweglich in der Kälte verbracht hatten. Vorsichtig
und wachsam kletterten sie den Baum hinab und schwärmten
zögernd auf dem Waldboden aus. Die ranghöchsten Weibchen
bewegten sich am Rand der Lichtung entlang und erneuerten mit
Handgelenken, Achselhöhlen und Genitalien die Duftmarken.
Noth wühlte im gefrorenen Kompost. Mit dem toten Laub
vermochte er nichts anzufangen, aber er lernte schnell, an Stellen zu
graben, wo die Schicht besonders dick war. Die verrottenden
Blätter speicherten Feuchtigkeit und gefroren nicht. Deshalb
vermochte er Tau vom Laub abzulecken und im weichen Boden nach
Knollen, Wurzeln und sogar den Rhizomen von Farnen zu graben.
Plötzlich ertönte eine Serie lauter Schreie, die durch
den Wald hallte. Noth schaute mit zuckenden Schnurrhaaren auf.
Es herrschte Unruhe in einem Podocarpus-Hain. Noth sah, dass eine
Gruppe Notharctus aus fremden Weibchen und einer Schar Jungen aus dem
Wald gekommen war. Sie näherten sich dem Podocarpus.
Größte stob mit ein paar anderen Weibchen auf sie zu.
Das große dominierende Männchen der Sippe – den Noth
sich irgendwie als ›Kaiser‹ vorstellte – schloss sich
den vorpreschenden Weibchen an. Bald ergingen alle sich in
Drohgebärden, kreischten und benetzten die langen Schwänze
mit Duftstoffen. Die fremden Weibchen wichen zurück und
erwiderten die Drohgebärden. Der Wald hallte für einen
Moment von einer lautstarken Auseinandersetzung wider.
Die weiblichen Clans, das Herz der Notharctus-Gesellschaft, wurden
bei Grenzverletzungen des Territoriums zu Furien. Diese fremden
Weibchen hatten die Duftmarken missachtet, die von Groß und den
anderen gesetzt worden waren und die im Sensorium eines Notharctus
wie rote Alarmlichter wirkten. In dieser Zeit des Jahres wurde auch
das Futter knapp, und im letzten Versuch, die Körper-Speicher
für den harten Winter aufzufüllen, lohnte sich der Kampf um
einen üppigen Popdocarp-Busch.
Die Weibchen führten ihre Auseinandersetzungen mit
größerem Ungestüm als die Männer – und
dabei trugen sie noch ihre Jungen unterm Bauch. Die Gebärden
eskalierten schnell zu Ausfällen und Finten und sogar
Beißattacken. Die Weibchen waren wie Messerkämpfer.
Aber es kam nicht zum Äußersten. Die Demonstration von
Größter und den anderen bewog die Neuankömmlinge zum
Rückzug, ohne dass ein Notharctus die Pfote gegen einen anderen
erhoben hätte. Sie zogen sich in die langen grau-braunen
Schatten des tiefen Waldes zurück; aber nicht ohne dass ein
größeres Junges vorgeprescht wäre, die Zähne in
eine von der Kälte verschrumpelte Frucht geschlagen und mit der
Beute davongerannt wäre, ehe man es aufzuhalten vermochte.
Die Weibchen, die sich plötzlich der Verwundbarkeit ihres
Schatzes bewusst geworden waren, bildeten nun einen Kreis um den
Podocarp und verschlangen gierig die Früchte. Ein paar
ältere, starke Männchen, einschließlich des Kaisers,
schlossen sich Größter und den anderen bei der Mahlzeit
an. Noth umkreiste mit anderen jungen Männchen die futternde
Gruppe und wartete darauf, dass er sich an den Resten gütlich
tun konnte.
Er wagte es aber nicht, den Kaiser herauszufordern.
Die Notharctus-Männchen hatten ihre eigene komplexe und
differenzierte Sozialstruktur, die diejenige der Weibchen
überlagerte. Und sie war auf die Paarung ausgerichtet, die die
wichtigste Sache – die einzig wichtige Sache für sie
war. Der Kaiser hatte ein großes Territorium, das die Reviere
vieler Weibchen-Gruppen umfasste. Er war bestrebt, sich mit allen
Weibchen seines Territoriums zu paaren, um die Chance zu maximieren,
seine Gene weiterzugeben. Er setzte Duftmarken an Weibchen, um
Rivalen abzuschrecken. Und er kämpfte mit aller Macht, um andere
starke Männchen von seinem großen Reich fernzuhalten
– genauso wie Noths Vater versucht hatte, Solo zu
vertreiben.
Dieser Kaiser war ein guter Kämpfer und hatte sein
ausgedehntes Reich schon seit über zwei Jahren halten
können. Aber wie alle Mitglieder seiner kurzlebigen Art alterte
er
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