Ewig sollst du schlafen
es nicht benennen können. Sieberts Ruf war tadellos, und trotzdem traute Reed ihm nicht über den Weg. Er traute niemandem mit tadellosem Ruf. »Per E-Mail.«
Siebert schien protestieren zu wollen, überlegte es sich unter Reeds bohrendem Blick jedoch anders. Mit unbewegter Miene sagte er: »Dann hol ich’s mir von ihr.« Den Teufel wirst du tun, dachte Reed. Er würde sämtliche relevanten Fakten weitergeben und seine sachlichen Einschätzungen dazu, doch seine intuitiven Vermutungen und Theorien würde er für sich behalten. Jemand anderem würden sie sowieso nichts nützen.
Nachdem Siebert sein Büro wieder verlassen hatte, kopierte er rasch seine Notizen auf eine CD und stopfte diese in seinen Aktenkoffer. Dann schickte er seine Aufzeichnungen per E-Mail an Morrisette. Mittlerweile war es schon so spät, dass er es kaum noch rechtzeitig zu seiner Verabredung mit Nikki schaffte, und trotzdem machte er noch einen Abstecher zu Katherine Okanos Büro.
Tonya Cassidy, Okanos Sekretärin, räumte gerade ihren Schreibtisch auf, im Begriff, Feierabend zu machen. »Ich muss unbedingt Kathy sprechen.«
»Sie ist schon weg.« Reed biss die Zähne zusammen und bedachte Tonya mit einem grimmigen Blick. Seiner Einschätzung nach war Tonya eine autoritätsgläubige Duckmäuserin. »Wann kommt sie wieder?«
»Am Montag.«
Verdammt.
»Sie hat mir gesagt, dass Sie wahrscheinlich noch reinschauen würden, und hat das hier für Sie hinterlegt.« Tonya griff in eine Schublade und entnahm ihr einen versiegelten Umschlag. Die Art, wie sie eine Augenbraue hochzog, verriet ihm, dass sie wusste, was sich in dem Kuvert befand, das sie Reed jetzt reichte.
Er musste kein Hellseher sein, um zu erfassen, was der Umschlag enthielt.
Zurück im Flur riss er ihn auf und entfaltete das einzelne Blatt Papier.
Der Laborbericht war eindeutig. Seine Blutgruppe, B negativ, deutete mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass er der Vater von Bobbi Marx’ Kind war. Eine Anmerkung besagte, dass die DNA-Analyse folgen würde, sobald alle Tests durchgeführt waren. Er empfand eine ihm völlig neue Art von Verzweiflung. Sein Kind.
Der Scheißkerl hatte sein Kind getötet.
19. Kapitel
I ch kann nicht, nicht heute Abend«, sagte Nikki, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, nur halb bei der Sache. Sie stand unter Zeitdruck und verpasste gerade ihrer nächsten Story über den Grabräuber den letzten Schliff. Doch ihre Schwester hatte ihre eigenen Probleme und schien verzweifelt zu sein. »Wieso nicht? Hör mal, Nikki, du kannst wirklich nicht behaupten, dass ich dich oft bitte, Phee zu hüten.«
Das stimmt schon, dachte Nikki. »Jeden anderen Abend gern, Lily, ich schwör’s dir. Aber heute hält die Polizei in knapp einer Stunde eine Pressekonferenz über den Grabräuber ab, und danach habe ich noch ein wichtiges Interview. Ein wirklich wichtiges.«
»Dann nimm sie mit.«
»Eine Zweijährige? Bist du verrückt?« Nikki vertippte sich.
»Verdammt.« Sie unterbrach ihre Arbeit und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Nimm du sie doch mit.«
»Das geht nicht. Ich würde dich ja gar nicht belästigen, aber mein Babysitter hat in letzter Minute abgesagt.«
»Okay, okay, hör zu … Bring Phee zu Mom und Dad. Ich hole sie nach meinem Interview ab … Sagen wir, gegen halb zehn oder zehn. Dann fahr ich mit ihr zu euch nach Hause, und wenn sie schläft, arbeite ich am Laptop weiter.«
»Ich weiß nicht…«
»Wenn dir das nicht passt, dann such dir jemand anderen. Ruf Kyle an«, schlug sie vor.
»Kyle? Phh.« Lily schnaubte verächtlich. »Der kennt sich doch überhaupt nicht aus mit Kindern.«
»Und ich? Lily, ich muss jetzt wirklich los.«
»Okay, ich bringe sie zu Mom und Dad, obwohl das wirklich furchtbar umständlich ist. Ich wollte mich schon um sieben mit Mel treffen.« Seufzend fügte sie hinzu: »Weißt du, was dein Problem ist, Nicole?«
Oha, jetzt kommt’s.
»Schätze, du wirst es mir jetzt sagen, ob ich will oder nicht.« Nikki verstaute ihr Handy in der Tasche.
»Du bist genauso wie Andrew«, sagte Lily, ohne Nikkis Seitenhieb zu beachten. »Selbstsüchtig und übertrieben ehrgeizig. Als ob sich die ganze Welt um dich dreht.« Wütend legte sie auf, und Nikki verzog das Gesicht. Sowohl wegen der Beleidigung als auch wegen der Lautstärke, in der ihre Schwester den Angriff vorgebracht hatte. Typisch Lily, Kränkungen auszuteilen und sich dann zu verabschieden. Schon als weinerliches Kleinkind musste Lily immer das
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