Ewig sollst du schlafen
letzte Wort haben. Sie war eine Pseudointellektuelle, die ein Studium aufgenommen hatte, sich für Politik und die aktuelle Mode begeisterte und ihre Tage damit verbrachte, ihre Tochter zu betreuen, dünne schwarze Zigaretten zu rauchen und mit Freunden über Literatur und Philosophie zu diskutieren. Sie arbeitete als Teilzeitkraft in einem Café und spielte Flöte und sang in einer Jazzband. Nikki war zweimal zu einem Konzert gegangen, konnte mit der Musik allerdings einfach nichts anfangen. Die einzelnen Stücke fanden kein Ende und hatten eine Melodie, die nur gelegentlich aus dem allgemeinen Lärm herauszufiltern war.
Märtyrerhaft hatte Lily den Namen des Vaters der kleinen Ophelia nie preisgegeben; dieses Geheimnis würde sie wahrscheinlich mit ins Grab nehmen. Nicht, dass es Nikki großartig interessiert hätte. Ophelia, einfach hinreißend, hatte ihr Herz gestohlen, seit sie sie im Krankenhaus zum ersten Mal gesehen hatte. Allein der Gedanke an die Zweijährige mit ihrem wirren Kraushaar entlockte Nikki ein Lächeln. Nun schloss sie den Rohentwurf ihres Artikels ab. Womöglich würde sie auf der Pressekonferenz oder beim Interview mit Reed noch Neues erfahren und Korrekturen vornehmen müssen. Sie schnappte sich ihren Mantel und lief eilig nach draußen. Am Eingang stieß sie beinahe mit Norm Metzger zusammen. »Pass doch auf.«
»Höflich wie immer, was?«, fuhr sie ihn an, obwohl eine Auseinandersetzung mit Norm das Letzte war, was sie im Augenblick heraufbeschwören wollte. Nicht jetzt. Na ja, eigentlich am besten nie.
Der böse Blick, mit dem er sie bedachte, sprach Bände, und sie wappnete sich gegen die bevorstehende Verbalattacke. »Woher kriegst du deine Informationen, verdammt noch mal?«
»Wie meinst du das?«
»Wie kommt es, dass du der Polizei immer einen Schritt voraus bist?« Er blockierte den Ausgang, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihm herumzuschlagen. »Ich bin der Polizei nicht voraus.«
»Du hast schon von einem Serienmörder berichtet, bevor die Polizei ihr Statement abgegeben hat. Ich habe gerade erfahren, dass um sechs eine Pressekonferenz stattfindet.« Er sah auf seine Uhr. »In zwanzig Minuten. Wetten, dass sie alles, was du bereits veröffentlicht hast, wiederholen und die Möglichkeit einräumen, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben?«
»Ich wette nicht.«
»Ja klar.«
»Warum bist du nicht längst dort, um die Konkurrenz auszuschalten?«
»Bin schon auf dem Weg«, sagte er bitter. »Ich glaube aber, der Konkurrenz sehe ich in diesem Moment ins Gesicht.«
»Ach, Norm, lass mich einfach in Ruhe«, schoss sie zurück und zwängte sich an ihm vorbei.
»Weißt du, Gillette, eigentlich kannst du dir die Pressekonferenz sparen. Deine ›Quelle‹ versorgt dich doch vor allen anderen mit den entscheidenden Informationen.«
»Dass ich einen Informanten habe, wurmt dich gewaltig, was?«, fragte sie wütend und wandte sich zu ihm um. Sie hatte sich sein Gezeter lange genug angehört. »Was mich wurmt, ist die Tatsache, dass du deinen Namen einsetzt. Als Tochter von Big Ron Gillette öffnen sich dir so manche Türen, die uns anderen Arbeitstieren verschlossen bleiben.«
»Du glaubst, es liegt an meinem Namen?«
»Ich weiß es sogar.« Er lächelte zynisch. »Ach, denk doch, was du willst!« Irgendwie schaffte sie es, sich die hitzige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, zu verkneifen. »Das bringt dich jedenfalls auch nicht weiter.« Damit ließ sie ihn stehen und rannte über die Straße zum Parkplatz, mit brennenden Wangen und angeknackstem Ego, obwohl er nichts gesagt hatte, was sie nicht schon vorher aufgeschnappt oder selbst gedacht hatte. Sie schleuderte Handtasche und Laptop auf den Rücksitz und setzte sich hinters Steuer ihres Kleinwagens. Lass dich von ihm nicht unterkriegen, ermahnte sie sich, als sie vom Parkplatz fuhr. Sie durfte ihm nicht die Befriedigung geben, als Sieger dazustehen. Sie kannte die Wahrheit – und das war wahrscheinlich das Schlimmste. Sie benutzte nicht ihren Namen, dafür aber den Tod ihres Bruders und das Schuldgefühl eines Freundes, und das nur, um an ihre Story heranzukommen.
Wie eine Verrückte raste sie zur Polizeibehörde und quetschte den Wagen hinter einem WKAM-Ü-Wagen in eine Parklücke. Noch bevor die Pressekonferenz auf den Stufen zu dem Gebäude begann, war es schon fast dunkel. Straßenlaternen leuchteten, und die Luft war kalt, aber trocken. Reporter, Kameraleute und Schaulustige hatten sich
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