Ewig sollst du schlafen
infrage.
Nikki öffnete eine Schreibtischschublade und fand darin ein verstaubtes Fotoalbum. Ihr Album. Es enthielt ihre Lieblingsfotos aus der Grundschule, der Highschool und dem College. Rasch blätterte sie die Seiten um und erblickte Aufnahmen von ihrer Familie und ihren Freunden. Andrew war am stärksten vertreten. Sein lächelndes Abbild sprang ihr aus den Seiten entgegen, ob er nun herumalberte oder in seiner Football-Ausrüstung posierte. Sein Haar war immer kurz geschnitten, sein Gesicht glatt rasiert, um das energische Kinn zu betonen, das aufs Haar dem seines Vaters glich.
Andrew hatte den gleichen Körperbau wie Big Ron, stark wie ein Ochse und doch flink genug, um im Footballteam den Quarterback zu spielen. So intelligent er auch war, fehlten ihm doch der Ehrgeiz und die Leidenschaft für die Arbeit, die seinen Vater auszeichneten, und er hatte zu häufig den leichteren Weg gewählt… im Gegensatz zu ihr. Sie war von Ronald Gillettes Kindern diejenige, die den gleichen Elan hatte wie der alte Herr.
Lily und Kyle tauchten natürlich auch auf zahlreichen Familienfotos auf, aber immer wieder war es Andrew, der die Kamera auf sich zog, und Nikki fragte sich, ob es nur daran lag, dass ihr ältester Bruder so fotogen gewesen war, oder viel mehr daran, dass das Auge des Fotografen immer nach ihm Ausschau gehalten hatte. Auch andere Personen waren auf den Fotos abgebildet. Hier und da tauchte Cliff Siebert auf einem Schnappschuss auf, wie er mit Andrew herumflachste, Grimassen zog, gelegentlich Nikki mit gespielt lüsternen Blicken betrachtete. Auf späteren Fotos war Simone zu sehen, wie sie mit Nikki lachte oder Andrew umarmte. Ein hinreißendes Pärchen; sie waren so verhebt gewesen. So hatte es zumindest ausgesehen.
Doch es war eine Lüge gewesen. Andrew hatte mit ihr Schluss gemacht.
»Du misst dem zu viel Bedeutung bei«, flüsterte Nikki. Sie stellte fest, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Trotzdem blätterte sie weiter in dem Album, zu den Aufnahmen aus dem College und den Sommerferien, einschließlich der Zeit, als sie zum ersten Mal für den
Sentinel
gearbeitet hatte. Ein Foto zeigte Nikki und Sean, jeweils einen Arm um die Taille des anderen gelegt, auf einer Sanddüne stehend, den Wind in den Haaren, Büschel von Strandhafer zu ihren nackten Füßen. Sean sah damals jünger aus, sein Gesicht war rasiert, sein Lächeln unschuldiger, doch er war schon durchtrainiert und kräftig, im Begriff, in die Marine einzutreten, und wahrscheinlich längst mit der anderen Frau zusammen. Nikki hätte gern gewusst, was aus dem Mädchen geworden war … Wie hieß sie noch gleich? Cindy Soundso. Sie stammte nicht aus Savannah, aber das war auch schon alles, was sie über ihre einstige Konkurrentin wusste. Diese Phase in ihrem Leben war äußerst schmerzhaft gewesen; nicht genug damit, dass Sean mit ihr Schluss gemacht hatte, hinzu kam auch noch, dass sie sich beinahe die Karriere verbaut und den Ruf ihres Vaters zerstört hatte, alles nur wegen des Prozesses gegen LeRoy Chevalier. Sie sollte jetzt nicht an Chevalier denken, der fast eine ganze Familie abgeschlachtet hatte, die Familie seiner
Freundin
. Und jetzt lief er wieder frei herum … was keineswegs Nikkis schuld war. Der Fall war wieder aufgerollt worden, und mit neuer Technologie wie der DNA-Analyse hatte sich ergeben, dass der Mord möglicherweise doch auf das Konto eines anderen ging, dass das Beweismaterial gegen LeRoy Chevalier viel unzureichender war als ursprünglich Angenommen.
Nikki schauderte. Sie erinnerte sich an Chevalier auf der Anlagebank, mit leblosen Augen starrte er vor sich hin, zeigte keinerlei Regung, auch nicht, als der Jury die Fotos von seiner Freundin und den zwei toten Kindern vorgelegt worden. Nicht einmal, als der einzige Überlebende des Gemetzels, der zweite Sohn seiner Freundin, seine Aussage lachte und seine grausamen Verletzungen enthüllte, also hatte er nur ein paar Jährchen seiner lebenslangen Haftstrafe abgesessen. Und das nannte man Gerechtigkeit. Sie blätterte weiter. Es folgten keine weiteren Fotos von Sean Hawke, und auch Andrew war urplötzlich nicht mehr vertreten. Auf den noch verbleibenden Bildern hatten die Gesichter, die die Kamera einfing, ihr Strahlen verloren, das Lächeln wirkte gezwungen, der Ausdruck ernüchtert, Nikki hatte die Karte von Andrews Beerdigung aufbewahrt, sie lag, längst verblichen, in dem Album. Wie furchtbar, lachte sie jetzt und nahm die Karte heraus …
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