Ewig sollst du schlafen
er, und sie ahnte, dass etwas Böses auf sie zukam. Mit der Geschwindigkeit eines Güterzugs. »Simone Everly war deine Freundin, nicht wahr? Vorjahren mit deinem Bruder verlobt, oder?«, fragte er und fügte dann, als wäre ihm plötzlich bewusst geworden, dass er mit der Tür ins Haus fiel, eilig hinzu: »Auf jeden Fall tut mir sehr Leid, was passiert ist.«
»Tatsächlich?«, fuhr sie ihn an.
»Natürlich. Das ist eine schreckliche Sache. Einfach schrecklich. Kein Wunder, dass du aufgebracht bist.«
»Aufgebracht?« Was sollte das heißen? »Ich könnte es dir nicht verübeln, wenn du das Handtuch werfen würdest.«
Sie antwortete nicht, wartete einfach ab. Früher oder später würde Tom zum Punkt kommen, ihr den Grund verraten, warum er sich gleich bei ihrer Ankunft in der Redaktion auf sie gestürzt hatte.
»Aufgrund deiner Beziehung zu Simone Everly und dem Grabräuber bietet sich uns hier beim
Sentinel
eine einmalige Gelegenheit.«
»Uns?«, gab sie zurück.
»Mhm. Wir könnten den Spieß gewissermaßen umdrehen«, sagte er und vollführte mit beiden Händen schnelle Kreisbewegungen. »Sodass nicht du das Interview durchführst, sondern selbst interviewt wirst.« Das wurde ja immer schlimmer.
»Norm könnte einen ausführlichen Artikel über Simone, dich und den Grabräuber bringen, irgendwie das gesamte Spektrum abdecken. Thema soll deine Beziehung zu dem Mörder und zu einem seiner Opfer sein.«
»Ausgeschlossen. Tom, versuchen Sie ja nicht –« Doch er war bereits aufgestanden, pochte an die Scheibe und winkte jemanden herein. Nur Sekunden später schlüpfte Norm Metzger durch die Tür. Er war bewaffnet mit Rekorder, Stift und einem dicken jungfräulichen Notizblock, den nicht einmal ein winziger Strich verunzierte. »Hallo, Nikki«, sagte er und senkte den Kopf, konnte sein schmieriges Grinsen aber nicht ganz verbergen. »Tom hat mich über den geplanten Artikel informiert«, erklärte sie und zwang sich zu einem gleichwertigen Lächeln. »Prima.«
»Ich schätze, ich sollte mit einer Erklärung beginnen.«
»Gute Idee«, pflichtete er ihr bei, doch in seinem Tonfall schwangen Vorbehalte mit. »Und was für eine Erklärung?« Nikki stand auf und schob den Sessel zurück. »Eine ganz einfache und klar verständliche.«
»Nikki …«, mahnte Tom.
»Folgendes, Metzger. Über den Tod ihrer Freundin Simone Everly befragt war Miss Gillettes Antwort schlicht und ergreifend: ›Kein Kommentar!‹« Und mit diesen Worten verließ sie den Raum.
Reed fuhr zu dem Bestattungsinstitut. Während des Trauergottesdienstes wurde Barbara Jean Marx’ Leben von einem jüngeren Geistlichen nacherzählt und kommentiert. Er sprach ihren Namen falsch aus und konsultierte immer wieder seine Notizen. Es war eine erbärmliche Gedenkfeier. Billig und seicht. Vor der Tür der kleinen Kapelle lauerte eine Horde von Reportern. Reed kannte die meisten von ihnen, einschließlich Norm Metzger vom
Sentinel
, doch jene Journalistin, die er suchte, war nicht anwesend. Offensichtlich fühlte sich Nikki Gillette so kurz nach dem Mord an Simone nicht imstande, einem Begräbnis beizuwohnen. Er konnte es nachempfinden. Doch Reed hatte einfach herkommen müssen. Es war das Mindeste, der Frau, die von ihm schwanger gewesen war, die letzte Ehre zu erweisen. Verstohlen musterte er die Trauergemeinde. Ob einer der Trauernden womöglich der Mörder war? Morrisette und Siebert nahmen ebenfalls teil, hielten Ausschau nach einer auffälligen Person, nach jenem Kerl, dem einer abging, wenn er seine Opfer in bereits belegte Särge stopfte. Womöglich war er wirklich hier, um die Früchte seiner Tat zu ernten und sich in dem Wissen zu sonnen, dass niemand außer ihm den Grund für die Ermordung des Opfers wusste. Reed kannte nicht viele von Bobbis Freunden und Bekannten. Er entdeckte Jerome Marx, der eher verärgert als traurig wirkte, weil er bei diesem Gottesdienst anwesend sein musste, und ein paar von Bobbis Arbeitskollegen, aber das war auch schon alles. Ferner bemerkte er einige Polizisten in Zivil.
Es war eine kleine, nicht homogene, unruhige Gruppe, die dem unfähigen Geistlichen lauschte. Zum Gebet senkten sie alle die Köpfe und rangen anschließend um die Zeilen einiger Kirchenlieder. Alles in allem war es eine äußerst deprimierende Angelegenheit. Vor der Kapelle pfiff der Wind mit voller Kraft, hielt zwar den Regen fern, peitschte einem dafür aber ins Gesicht. Er fuhr zum Friedhof, auf dem Barbara Jean Marx ein zweites Mal
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