Ewig sollst du schlafen
Wäsche zurück in die zweite Schublade legte, stachen ihm eingetrocknete Blutstropfen auf dem Holz ins Auge, und er strich leicht mit dem Daumen darüber. Wie so oft. Nur um der Erinnerung willen. Doch er achtete genau darauf, nicht zu heftig zu reiben; das Blut musste bleiben, wo es war, auch die Tropfen, die an der Seite hinabgeflossen waren. Ein paar dunkle Flecke befanden sich über der obersten Schublade und am Schlüsselloch, doch diese Schublade machte er ohnehin nicht auf. Er würde sie niemals aufmachen. Dieses intime Fach war heilig. Durfte nicht angetastet werden. Er griff nach der Kette, die er um den Hals trug, und befühlte den kleinen Schlüssel daran.
Manchmal war er versucht, den Verschluss des abgenutzten Kettchens zu öffnen, den Schlüssel zu lösen und ins Schloss zu schieben. Dann wollte er genüsslich dem Klicken lauschen. Die alte Schublade würde sich langsam aufziehen lassen, versiegelt mit Blut, das einmal klebrig gewesen war, und dann würde er …
Nein! Er würde diese Schublade niemals öffnen.
An sämtlichen Geräten leuchteten die Aufnahmeanzeigen. Er konnte gehen. Sein anderes Leben wieder aufnehmen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und bemühte sich, sein hämmerndes Herz zu beruhigen, indem er einen letzten Blick auf die Nachrichten warf und auf das Chaos, das er angerichtet hatte. Und all die Aufregung wegen des schrecklichen Todes einer Hure! Wieder einmal stellte er sich vor, wie sie in ihrem Sarg aufwachte, geschüttelt von Grauen. Er hätte den Sarg wieder aus der Grube holen, hätte ihr Held sein und sie auf der Stelle nehmen können. Sie hätte alles für ihn getan. Hätte die Beine breit gemacht. Seinen Schwanz gelutscht. Alles.
Urplötzlich überkam ihn wildes Begehren, die Lust schoss ihm durch die Adern, und er stellte sich Pierce Reed im Bett mit ihr vor. Das Schwein.
Der Mund des Überlebenden war plötzlich wie ausgedörrt. Kein einziger Tropfen Speichel sammelte sich darin. Er starrte auf die Bildschirme und dachte daran, wie er Barbara die Spritze in den Arm gestochen hatte … Sie hatte aufgeschrien, war zusammengebrochen, hatte dann das Bewusstsein verloren und … Eine Reihe von Pieptönen riss ihn aus seinen Träumereien. Er fand blitzartig zurück in die Gegen wart und stellte fest, dass er sich beeilen musste. Rasch schaltete er den Alarm seiner Armbanduhr ab und schlüpfte aus dem Zimmer. Während er leise durch die dunklen Korridore huschte, die kaum mehr als Tunnel waren, zeichneten die Rekorder weiter jede Sekunde der Nachrichtensendungen auf. Er wappnete sich gegen den kalten Wintermorgen und für den neuen Tag. Endlich war seine Zeit gekommen.
4. Kapitel
G eräuschlos lief er durch die einsetzende Dämmerung. Er war zum Umfallen müde, und wenn er erwischt wurde, verlor er wahrscheinlich seinen Job. Trotzdem schlüpfte Reed durchs Hintertörchen, fand den Ersatzschlüssel dort, wo Bobbi ihn gewohnheitsmäßig hinter dem Abflussrohr versteckt hatte, zog seine Schuhe aus und betrat ihre Küche. Die Jalousien waren herabgelassen, das gedämpfte Licht über dem Herd brannte wie immer. Er war seit Monaten nicht mehr in dem Häuschen gewesen, und trotzdem war es ihm vertraut. Es gab nur einen einzigen Grund dafür, dass er das Risiko eines Besuchs in ihrem Haus einging: Der Fall würde ihm schon bald mit großer Wahrscheinlichkeit entzogen werden. In dem Moment, wenn die Bezirksstaatsanwältin Wind davon bekam, dass er intime Beziehungen zu dem Opfer unterhalten hatte, würden Reed andere Fälle zugeteilt und sämtliche Informationen über Bobbis Tod vorenthalten. Was ihn mächtig ärgerte.
Auf Strümpfen durchquerte er ein kleines Esszimmer mit Holzfußboden und betrat das Wohnzimmer. Es war noch genauso eingerichtet, wie er es in Erinnerung hatte, mit prallen Polstermöbeln, bunten Teppichen und Pflanzenkübeln in jeder Ecke. Zeitungsseiten lagen auf dem Kaffeetisch verstreut. Er rührte sie nicht an, nahm jedoch zur Kenntnis, dass es sich um die Morgenausgabe des
Savannah Sentinel
mit dem Datum des vorvorigen Tages handelte. Bobbi, oder wer immer zuletzt in dem Häuschen gewesen war, hatte die Lokalnachrichten gelesen. Die größte Schlagzeile betraf ein Restaurationsprojekt in der historischen Altstadt; Autorin des Artikels war Nikki Gillette. Eine nervtötende Frau, wie er selten eine kennen gelernt hatte, eine von diesen hartnäckigen Reporterinnen, die für eine Story alles tun würden und unbedingt nach oben kommen wollen.
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