Ewig sollst du schlafen
lenkte, griff er nach seinem Ohrstöpsel und steckte ihn ins Ohr. In den oberen Stockwerken brannte kein Licht, und im Keller war es dunkel wie in einem Grab. Er stellte den Pick-up hinter einem grauen moosbewachsenen Lieferwagen ab. »Harre, meine Seele, harre des Herrn! Alles ihm befehle, hilft er doch so gern …«, trällerte Roberta. Als ob ihr das etwas nützen würde. Der Überlebende lauschte ihrer erstaunlich kräftigen, klaren Stimme, der Stimme einer Frau, die nicht mehr verängstigt jammerte, sondern in einem Lied, das sie zweifellos als Kind gelernt hatte, laut ihren Glauben kundtat. Als wäre sie bereit, zu sterben und vor das Antlitz ihres Schöpfers zu treten.
Angewidert verzog der Überlebende den Mund. Er erkannte den Text und die Melodie. Hatte das Lied selbst gesungen. Wie oft war er gezwungen worden, nach einer besonders brutalen Tracht Prügel dieses alberne kleine Liedchen vorzutragen? Und was hatte es gebracht? Wo war Gott gewesen, als er Schmerzen erlitt? Hatte er ihn gehört und Anstalten gemacht, ihn zu retten? Soweit sich der Überlebende erinnerte, nicht. »Weiter so«, murmelte er angewidert, als könnte die Alte ihn verstehen. »Sing dir ruhig deine erbärmliche Lunge aus dem Leib.«
»Deine Gnad und Jesu Blut …« Roberta Peters’ deutliche Stimme brach. »Machen allen Schaden …«
Und dann nichts mehr.
Sie sang nicht mehr.
Bettelte nicht um Gnade.
Kein unkontrolliertes Schluchzen.
Seine Gesichtshaut spannte schmerzhaft. Er kurbelte das Seitenfenster herab und spuckte aus. Wer hätte gedacht, dass die alte Frau ihr Schicksal so demütig annahm, sich womöglich sogar darauf freute, in ein anderes Leben hinüberzugehen, darauf hoffte, lächelnd in den Garten Eden einzuziehen?
Der Überlebende fühlte sich ohnmächtig. Wütend riss er sich den Ohrstöpsel aus dem Ohr. Dafür hatte er so hart gearbeitet? Dafür, dass sie ihren Tod ergeben akzeptierte, hatte er geplant und geschuftet? Scheiße! Abgesehen von einem bisschen anfänglichen Keuchen, ein paar Angstschreien und einem Rumpeln, als sie versuchte, sich zu befreien, war Roberta Peters’ Reaktion eine Enttäuschung. Nicht annähernd so befriedigend wie Barbara Marx’. Bobbi, wie sie sich nannte, zuzuhören war eine Freude gewesen, nahezu sexuell stimulierend. Die Tatsache, dass sie eine so lustbetonte, sinnliche Frau gewesen war, hatte das Verfolgen ihres Sterbens noch aufregender gemacht. Wenn er an ihr Gejammer dachte, spürte er selbst jetzt noch, wie sich sein Körper regte.
Aber das hier … dieses erbärmliche Weinen und Schmettern eines kindischen Kirchenlieds hinterließ ein Gefühl der Leere in ihm.
Mach dir keine Gedanken. Die alte Dame hat bezahlen müssen. Wie die anderen auch. Und es folgen noch mehr, das weißt du doch. Und manche von denen sind bestimmt noch lohnender als Barbara Jean. Hab Geduld.
Er stieg aus dem Pick-up, schloss ihn ab und schritt dann zielstrebig durch die Dunkelheit zum Hintereingang des alten Hauses, in dem er wohnte. Längs des Wegs aus geborstenen Steinen, der zum Keller führte, wuchsen dichte Ranken. Farnwedel schlugen ihm ins Gesicht, der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. Er steckte seinen Schlüssel ins Schloss und schlüpfte durch die Tür ins finstere Haus. In seinen Privatbereich. Niemand ahnte, dass er sich tief in den Eingeweiden dieses alten Kastens aufhielt, nicht einmal die Besitzerin wusste, dass er über den Schlüssel zu diesem Teil des Hauses verfügte. Und das war ideal. Er machte kein Licht, tastete sich mit den Fingern an alten Regalen und den Ziegelwänden entlang. Heute Nacht würde er sich die Aufzeichnungen noch einmal anhören. Sie vergleichen. Die Zeit abnehmen … prüfen, wie lange es jeweils gedauert hatte, bis die Opfer starben. Nachdem er geduckt durch die Tür in sein Refugium gehuscht war, knipste er die Lampen an und trat an seine Kommode, wo er Roberta Peters’ Unterhose – eine große Unterhose für eine so dünne Frau – deponierte. Sie war nicht etwa weiß, nein, lavendelfarben, und sie roch auch leicht nach Lavendel, als hätte sie mit einem Duftkissen in einer Schublade gelegen. Sie war aus Seide, zweifellos teuer.
Er holte den kleinen Kassettenrekorder aus der Tasche, entnahm ihm die Kassette und schob sie ins Abspielgerät. Erneut vernahm er ihre flüsternden Schreie. O doch, gebettelt hatte sie auch. Als er an die anderen dachte … wie er ihre Qual verlängern würde, um nicht noch einmal enttäuscht zu werden, stahl sich
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