Ewig sollst du schlafen
Fall, hast du das vergessen?«, ermahnte Morrisette ihn. Er hatte schon die Tür aufgerissen und schritt nun zwischen den Kabinen und Schreibtischen hindurch, zwischen summenden Computern, klingelnden Telefonen und Typen in Handschellen, die vor Schreibtischen saßen und ihre Aussagen zu Protokoll gaben. »Wie könnte ich das vergessen?« Doch ohne seinen Schritt zu verlangsamen lief er weiter die Treppe hinunter. Morrisette folgte ihm dicht auf den Fersen. »Ich fahre.« Mit der Schulter stieß er eine Seitentür auf, und sie traten hinaus in den grauen Tag. Der Regen, der schon den ganzen Morgen lang in der Luft hing, kam jetzt in dicken Tropfen herunter, sammelte sich zu Pfützen auf dem Gehsteig. Die Gullys flössen bereits über.
Bevor Morrisette protestieren konnte, setzte sich Reed hinters Steuer. Als er vom Parkplatz fuhr, telefonierte Morrisette bereits, zunächst mit der Auskunft, dann mit dem Friedhofswärter. Es gelang ihr, sich eine Zigarette anzuzünden und gleichzeitig den Hörer ans Ohr zu halten. Reed schaltete das Blaulicht ein und raste durch die Stadt, bog auf den Victory Drive ein und fuhr vorbei an Palmen und zitternden Azaleen zu dem alten Friedhof am Stadtrand.
Der Polizeifunksender knisterte wie immer, der Verkehr surrte vorbei, die Scheibenwischer fegten Regentropfen von der Windschutzscheibe.
»… ganz recht«, sagte Morrisette gerade. »Okay, lassen Sie den Tatort absperren. Wir sind in zehn, fünfzehn Minuten da.« Sie legte auf und blickte Reed durch eine Rauchwolke hindurch an. Ihr Gesicht wirkte kantig. »Du hattest Recht mit deiner Vermutung. Jemand hat sich in der vergangenen Nacht an einem Grab zu schaffen gemacht. Besucher haben es heute Morgen entdeckt. Haben die Polizei informiert, und die haben den Friedhofswärter angerufen, der die Sache kurz zuvor schon gemeldet hatte. Ein Streifenwagen befand sich gerade nur zwei Blocks entfernt vom Friedhof und dürfte jetzt schon am Tatort sein.«
Reed biss die Zähne zusammen. »Verdammte Scheiße.«
»Sieht aus, als wäre der ›Grabräuber‹ oder wie immer du ihn nennen willst wieder in Aktion getreten. Ein Serientäter?« Sie zog eine Augenbraue hoch und sog heftig an ihrer Marlboro Light. »Könnte sein.«
»Himmel, dann müssen wir den FBI hinzuziehen.«
»Hat Okano sicher längst erledigt.« Der Inhalt der Botschaft hallte durch seinen Kopf.
EINS, ZWEI, DREI, VIER …
DU WÜSSTEST WOHL GERN,
WIE VIELE NOCH FOLGEN?
Reed wollte es gar nicht wissen.
»Also, warum hat der Kerl ausgerechnet dich ausgesucht? Warum schreibt er diese Briefe an dich?«, fragte Morrisette und schnippte die Zigarettenasche aus dem leicht heruntergekurbelten Fenster. »Ich kannte Bobbi.«
»Und du glaubst, das nächste Opfer kennst du auch?« Reeds Magen rebellierte. Seine Kiefer schmerzten, so fest biss er die Zähne zusammen, Himmel, er konnte sich nicht vorstellen, dass sämtliche Opfer Menschen waren, die er kannte. »Ich hoffe es nicht«, sagte er inbrünstig. War es möglich, dass irgendein Wahnsinniger, irgendwer, den er sich zum Feind gemacht hatte, ihn so sehr hasste, dass er die Menschen umbrachte, die ihm etwas bedeuteten? Wer steckte dahinter? Jemand, den er beleidigt hatte?
Irgendein Krimineller, den er hinter Gitter gebracht hatte? Verdammt. Er bog auf die Landstraße ein und folgte ihr bis zu dem Friedhof, wo nicht nur ein Streifenwagen, sondern bereits zwei parkten. Die Tore waren mit schwarz-gelbem Flatterband abgeriegelt, ein paar Schaulustige standen im Regen und spähten zwischen den alten Grabsteinen hindurch, in der Hoffnung, einen Blick auf das zu erhaschen, was dort vor sich ging.
Ein weißer Bulli mit dem Aufdruck WKAM in tiefblauen Buchstaben auf den Seiten war am Straßenrand abgestellt. Die Pressemeute war also bereits da.
»Der Rummel hat schon angefangen.« Reed hielt an und öffnete die Wagentür. Morrisette drückte ihre Zigarette aus und ließ den Stummel noch qualmend im Aschenbecher liegen. »Gehen wir.«
Bevor die Reporter über sie herfallen konnten, zeigten sie einem uniformierten Polizisten ihre Dienstmarken und schlüpften unter dem Flatterband durch. Das Gras war nass, der Wind kalt vom Regen. Sie drangen zum hinteren Teil des Friedhofs vor, wo sich eine Menschentraube angesammelt hatte. Es wurden Aufnahmen gemacht, Bodenproben genommen, herumliegende Teile aufgesammelt, Fußabdrücke untersucht. Die Leute von der Spurensicherung arbeiteten bereits unter Diane Moses’ Kommando. Reed bemerkte ein Tor im
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