Ewig sollst du schlafen
Gospel Mission und insbesondere nach Reverend Joe. Sämtlichen Informationsquellen zufolge hatten der gute Hirte und seine Einrichtung keinen Fleck auf der weißen Weste. Reverend Joe hatte sich nie im Leben auch nur ein Verkehrsdelikt zuschulden kommen lassen. Schon beinahe auffällig sauber. Reed hatte dem Mann von Anfang an nicht über den Weg getraut. Ihm gefiel es überhaupt nicht, dass er seinen Nachnamen unterschlug. Aber vielleicht war der alte Joe bei den Gottesfürchtigen so berühmt, dass sich die Nennung seines Nachnamens erübrigte. Wie bei Cher oder Madonna. Trotz seines Argwohns musste er sich eingestehen, dass dieser Anruf umsonst gewesen war und in eine weitere Sackgasse geführt hatte. Der erste Streich. Er nahm sich die Zeit, aus dem Getränkeautomaten am Ende des Flurs eine Cola zu ziehen, dann rief er die Polizeibehörde in New Orleans an. Er hoffte, Detective Montoya an die Strippe zu kriegen, einen jungen Hüpfer, der im letzten Sommer mit ihm zusammen den Fall Montgomery bearbeitet hatte. Von einer Sekretärin musste er aber erfahren, dass Montoya schon vor einigen Monaten aus der Behörde ausgeschieden war. Reed wurde an einen Detective namens Rick Bentz verwiesen, erreichte aber nur dessen Mailbox. Reed erinnerte sich, früher schon mal mit Bentz zu tun gehabt zu haben. Reed hinterließ ihm eine kurze Nachricht, in der er um Auskunft über Bobbi Jeans Bruder, Vin Lassiter, bat. Er gab seine Nummer an und legte auf. Der zweite Streich.
Er trank seine Cola aus, beantwortete ein paar Anrufe und widmete sich dann dem Papierkram, der liegen geblieben war, doch während der ganzen Zeit ließ ihm der Grabräuber-Fall keine Ruhe. Als der Nachmittag in den Abend überging, brütete er immer noch darüber. Etwas war ihm entgangen, seiner Meinung nach etwas überaus Wichtiges. Der verfluchte Mörder traktierte ihn mit Briefen, übermittelte ihm frech irgendwelche Hinweise, und er, Reed, kapierte sie nicht. Er zückte einen gelben Notizblock, machte seinen Kuli schreibbereit und fing an, Stichworte zu notieren. Er begann mit den Briefen des Mörders. Obwohl sie inzwischen längst im Labor lagen und von einem Polizeipsychologen sowie aller Wahrscheinlichkeit nach von einem FBI-Profiler analysiert wurden, war Reed entschlossen, dem Rätsel selbst auf die Spur zu kommen. Es war eine Art Kommunikation mit dem Mörder. Seine Verbindung zu ihm. Die an ihn adressierten Briefe mussten irgendetwas enthalten, was allein er verstehen konnte. Er schrieb den Inhalt des ersten Briefs nieder, der ihn im Büro erreicht hatte, versehen mit der Absenderadresse des Colonial Cemetery.
EINS, ZWEI
DIE ERSTEN PAAR HÖR SIE SCHREIEN,
HORCH, WIE SIE STERBEN.
Das war seine Einführung in den Fall gewesen. Der Mörder teilte ihm mit, dass er sich zwei Opfer gesucht hatte, wenngleich Pauline Alexander eines natürlichen Todes gestorben und schon seit zwei Monaten begraben war. Reed interpretierte den Brief als Herausforderung. Der Mörder gab ihm nur einen Tipp, nämlich dass diese zwei Toten die ersten von vielen sein sollten. In gewisser Weise war Pauline ebenso ein Opfer wie Bobbi Jean.
TICK TACK,
DER ZEIGER GEHT WEITER.
ZWEI IN EINS, EINS UND ZWEI
Wieder der Fingerzeig auf zwei Opfer, oder … hatte der Mörder von dem Kind gewusst? Falls ja, dann wären es drei … eins und zwei ergibt drei … Doch zu jenem Zeitpunkt waren es nur zwei Leichen gewesen – es sei denn, es war eine Anspielung auf Thomas Massey, der bereits tot war. Das würde bedeuten, dass Massey Bestandteil des Plans war, dass der Mörder das Grab nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt hatte. »Denk nach, Reed, denk nach«, knurrte er. In diesen Botschaften steckte noch mehr drin, etwas, das mit Zeit zu tun hatte. Aber was? Verfolgte der Mörder einen festgelegten Terminplan? Hatte er alles so gut durchorganisiert? Und immer wieder die Frage: Warum wandte er sich an Reed?
»Mach schon, verdammt, finde es raus«, brummte er und schrieb die Worte des dritten Briefs nieder:
EINS, ZWEI, DREI, VIER …
DU WÜSSTEST WOHL GERN,
WIE VIELE NOCH KOMMEN?
Wieder eine Provokation. Der Mörder trieb ein Spiel mit ihm. Und fühlte sich überlegen. Sprach ihn in der zweiten Zeile direkt mit Du an. Aber etwas in dem Schema schien von der vorigen Botschaft abzuweichen. Irgendetwas verunsicherte Reed.
Eins, zwei, drei, vier.
Beinahe wie ein Abzählreim, doch der Bezug auf die Leichen lag trotzdem auf der Hand. Vier Opfer, und das hieß eindeutig, dass nicht nur
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