Ewig sollst du schlafen
nach dir gefragt.«
»Ich habe schon mit ihm gesprochen.«
»Und?« Ihre Mutter lüpfte gespannt eine Augenbraue. »Nichts und. Er wollte, dass wir uns treffen. Ich hielt das nicht gerade für eine gute Idee.«
»Nein? Also ich habe Sean immer gemocht.« Sie hob die Hände vors Gesicht, als wollte sie sich vor einem Schlag schützen. »Ich weiß, ich weiß. Er hatte sich in eine andere verliebt. Aber weißt du, ihr wart beide noch so jung damals. Vielleicht –«
»Nie im Leben, Mom, und ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst. Sean war und ist eine falsche Schlange. Thema beendet.« Nikki konnte ihre Gereiztheit nicht verbergen. Offenbar hielt Charlene sie für eine alte Jungfer, nur weil sie schon über dreißig war. Und das war lächerlich. »Dad hat ihn nie gemocht«, betonte sie und glaubte, aus den Augenwinkeln zu sehen, wie Sandra knapp nickte. »Dein Vater ist allen Menschen gegenüber misstrauisch.« Charlene verschränkte die Arme unter ihren kleinen Brüsten. Sie reckte auf diese starrsinnige Weise, die Nikki schon allzu oft an ihr beobachtet hatte, das Kinn vor. »Das hängt mit seiner Tätigkeit als Jurist zusammen. Er wird Tag für Tag mit den dunklen Seiten des Lebens konfrontiert.« Nikki hörte, dass jemand das Garagentor öffnete. »Wenn man vom Teufel spricht.«
Ihre Mutter straffte kaum merklich den Rücken, als müsste sie sich wappnen, und Nikki geriet ins Grübeln. Was war bloß aus ihren Eltern geworden? Früher, als sie noch jünger gewesen waren, hatten sie oft getanzt und gelacht und sich mit ihren Scherzen gegenseitig zu übertreffen versucht. Sie schienen einander so innig zugetan und doch unabhängig zu sein, und vor allem hatte jeder den anderen geachtet. Sie waren liebevolle Eltern gewesen. Und glücklich. Noch immer verliebt, auch nach der Geburt von vier Kindern und zwei miteinander verbrachten Jahrzehnten. Ihr Glück hatte sich anscheinend im Lauf der Jahre abgenutzt, war durch Andrews Tod gänzlich verloren gegangen. Vielleicht wurde ihnen durch diesen tragischen Verlust ihre eigene Sterblichkeit bewusst. Zunehmende Gebrechen und der Kummer um ihren Sohn hatten Charlene ihres Witzes und ihrer lebhaften Art beraubt, und dieselben zwei Dämonen hatten ihren Vater zu einem verbitterten Mann gemacht. Sandra wischte rasch die restlichen Nusskrümel fort, dann öffnete Ronald Gillette, der Richter im Ruhestand, von der Garage aus die Tür zum Vorraum und trat kurz darauf ins warme Licht der Küche. Seine Wangen waren gerötet, seine Nase war neuerdings immer tiefrot, seine blauen Augen blitzten trotz vieler deutlich sichtbarer Äderchen. Manche Leute waren der Meinung, er sähe aus wie der Weihnachtsmann, doch Nikki erinnerte er an Burl Ives als Big Daddy in
Die Katze auf dem heißen Blechdach
.
»Hallo Feuermelder!«, rief er dröhnend und nahm sein jüngstes Kind in die Arme. Nikki hatte es nicht anders erwartet. Er roch nach Zigarrenrauch, Whiskey und Regen. »Also hast du es endlich auf Seite eins geschafft! Glückwunsch!« Er drückte sie noch einmal an sich.
Als er sie aus seiner Umarmung entließ, grinste Nikki von einem Ohr bis zum anderen. »Und ›endlich‹ ist das Schlüsselwort in diesem Satz.«
Big Ron lachte leise. »Aber damit bist du noch längst nicht über den Berg.«
»Noch nicht.«
»Tja, vielleicht sollten wir uns zur Feier des Tages einen Drink genehmigen. Charlene?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, und ihr verkniffener Mund verriet ihre Missbilligung. »Aber du trinkst doch einen mit mir?«, fragte er Nikki. Sie dachte an ihr geplantes Treffen mit Cliff. »Wir sollten es auf ein anderes Mal verschieben, Dad. Ich muss noch arbeiten.«
»Nur einen kleinen Schluck.« Er war bereits auf dem Weg in sein Büro. Ihre Mutter wandte sich dem dunklen Fenster zu, und Nikki sah Charlenes blasses Spiegelbild in der Scheibe, erkannte Schmerz und Missfallen in dem gespenstisch wirkenden Gesicht. »Alles in Ordnung, Mom?«
Charlene blinzelte und lächelte gezwungen. »Sicher.«
»Du würdest mich doch nicht belügen, oder?« Nikki ließ sich auf das Polster neben ihr sinken und nahm ihre Mutter in den Arm. Charlene duftete nach Estée Lauder und Puder. »Du warst doch gestern beim Arzt. Was hat er gesagt?«
»Was er jedes Mal sagt. Dass sich alles nur in meinem Kopf abspielt.« Mit einem Blick in Richtung Flur, in dem ihr Mann verschwunden war, fügte sie hinzu: »Er meint, ich sollte einen Psychologen aufsuchen.« Nikki nahm die Hand ihrer Mutter und
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