Ewig
Ausweis.«
Der andere Beamte nickte ergeben.
Als Georg Sina die breite Treppe zwischen den beiden Rampen zum Haupteingang der Wiener Universität am Dr.-Karl-Lueger-Ring hinaufging, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Er konnte es nicht sofort einordnen, es war eine Mischung aus nervöser Vorfreude und Angst vor der Begegnung mit einem geliebten Menschen aus der Vergangenheit. Um ihn herum tobte der ganz normale Universitätsalltag, laut, aufgeregt, lärmend. Niemand beachtete ihn, den Rückkehrer.
Er fühlte sich plötzlich wie ein Liebhaber, der sich vor langer Zeit aus dem Schlafzimmer einer Frau geschlichen hatte, als es noch dunkel war, davongestohlen wie ein Dieb in der Nacht. Nur auf dem Küchentisch hatte er eine kurze Notiz hinterlassen, hastig hingekritzelt: »Ich rufe dich später an. Wir sehen uns.« Leere Worte, wie so oft. Sein Versprechen hatte er niemals eingehalten. Und jetzt stand er wieder vor ihrer Tür, sein Finger zögerte über dem Klingelknopf, er dachte ans Weglaufen, zurück in die anonyme Fremde, in die er schon zuvor geflüchtet war. Warum? Weil Umarmungen auch Forderungen waren, Erwartungen, Verpflichtungen.
Heilige Mutter und Geliebte – ja, das war die Universität für ihn. Wenn viele seiner Kollegen die Wissenschaft nur als Job betrachteten, die Uni nur als Haus mit Büros und bis zum Bersten überfüllten Hörsälen, so war es bei ihm ganz anders. Als Sina sich entschieden hatte, den Weg eines Wissenschaftlers einzuschlagen, hatte er sich der »Alma mater Rudolphina«, der ältesten und größten Universität im deutschen Sprachraum, mit Haut und Haaren verschrieben. Im kleinen Festsaal der Universität hatte er ihr die ewige Treue geschworen, mit den Schwurfingern am Zepter der philosophischen Fakultät.
Damals war er ein anderer gewesen, viel jünger, in seinem neuen Anzug und den auf Hochglanz polierten Schuhen und die Streicher hatten die österreichische Bundeshymne und das »Gaudeamus igitur« nur für ihn gespielt, für ihn ganz alleine. Sina musste lächeln, als er daran dachte.
Dann, als junger Lektor, hatte er seine Studenten in den Einführungsvorlesungen gleich mit den richtigen Worten begrüßt: »Wissenschaft ist kein Job, sie ist eine Geisteshaltung, eine Lebenseinstellung! Wenn Sie einen Beruf lernen wollen, nur um Geld zu verdienen, dann machen Sie eine Berufsausbildung, und verschwenden Sie nicht Ihre und meine Zeit an der Universität.«
Aber dann war alles anders gekommen, das Leben hatte gespielt, das Schicksal gewürfelt und er hatte sich als Professor davongestohlen, einfach so, ohne sich umzudrehen. Er hatte Studenten, Freunde und Kollegen im Stich gelassen, seine Lebenseinstellung verleugnet, weil er den Sinn seines Lebens aus den Augen verloren hatte. Hätte die Universität ihm Kraft gegeben, wenn er geblieben wäre? Aber er hatte sich damals für die Einsamkeit entschieden und nun? Nun war er wieder da, die Zeit und die Entwicklungen der letzten Tage wollten es so.
Georg hob den Blick, ließ ihn langsam über die Bögen, Pilaster, Porträtbüsten und Schriftbänder an der Fassade im Neorenaissancestil schweifen und nahm die weichen Häuserrundungen wie Brüste und Hüften wahr. Wie würde sie reagieren, wenn er nach all den Jahren wieder vor ihr stand? Ihm ins Gesicht schlagen oder um den Hals fallen und ihn küssen?
Im Institut für Geschichte der Wiener Universität standen Professoren und Studenten in Dreierreihen im Kreis um Georg Sina und den Vorstand des Instituts herum. Sina schaute in die neugierigen Gesichter der Studenten und Assistenten und kam sich vor wie ein Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft. Die Studenten konnten nicht aufhören zu tuscheln.
»Das ist er? Das ist Professor Sina?«
»Ja, wenn ich es dir sage!«
»Das glaub ich nicht! Der berühmte Professor für Mittelalterliche Geschichte?«
»Ja, genau der.«
»Wo war der denn? Er sollte mal zum Friseur gehen …«
»Schscht, so seid doch still, ich verstehe nichts, was die da vorne sagen.«
»Ich frag jetzt nicht, wo du herkommst, Georg, und was du in den letzten Jahren gemacht hast, das kannst du uns irgendwann einmal erzählen, wenn du möchtest.« Der Leiter des Instituts, Professor Wilhelm Meitner, sah Sina mit Respekt und einer guten Portion Neugier an. »Aber du sollst eines wissen: Wir sind froh, dass du wieder da bist.«
Sina schaute in die Runde und sah die Erwartung in den Gesichtern der Studenten. Für sie war sein plötzliches Auftauchen eine Sensation.
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