Ewig
wenig lauter sprechen müssen, Pater Pius hört schon etwas schlecht«, gab ihnen der Provinzial des Missionshauses mit auf den Weg in den dritten Stock, wo am Ende eines breiten Ganges das Zimmer des hochbetagten Missionars lag. Als Wagner und Sina an der dunklen Holztür klopften, erwarteten sie einen gebeugten Greis vorzufinden, der auf einem Stock gestützt kaum aus seinem Lehnsessel aufstehen konnte. Aber der Mann, der ihnen die Tür öffnete, hatte eine weiße Löwenmähne, helle, wachsame Augen und hielt sich kerzengerade. Niemand hätte Pater Pius seine knapp neunzig Jahre angesehen.
»Pater Jakob hat Sie angekündigt«, begrüßte er seine beiden Besucher und schüttelte ihnen mit überraschend festem Griff die Hände.
»Wir wollten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie so freundlich waren, uns so kurzfristig zu empfangen«, meinte Paul Wagner und schaute sich in dem kleinen Zimmer um, das über und über mit Asiatica vollgestopft war. Figuren, Plakate, Stapel alter vergilbter Zeitungen, Jadeschnitzereien, gerahmte Fotos und lange Kalligraphie-Fahnen füllten den Raum rund um einen Arbeitstisch und ein schmales Bett aus. Pater Pius winkte ab.
»Ach was, ein alter Mann wie ich freut sich über jede Abwechslung. Außer meinen Erinnerungen redet hier kaum noch jemand mit mir. Die Bewohner des Heims sind aus allen Ecken der Welt heimgekehrt und fast allesamt Sonderlinge, die kaum mit sich selbst ins Reine kommen, geschweige denn mit anderen«, philosophierte Pius und ließ sich in den Lehnsessel vor seinem Schreibtisch fallen. »Ich kann Ihnen leider keine Sitzgelegenheit anbieten, ich bin nicht auf Besuch eingerichtet. Sie werden mit dem Bett vorliebnehmen müssen.«
Während Wagner alte Tagebücher beiseiteschob und sich so auf dem Bett ein Plätzchen frei räumte, setzte sich Sina einfach auf den Boden zu Füßen des alten Missionars. Der Wissenschaftler war in seinem Element, die Stapel alter Zeitungen und Bücher, die Fotos an den Wänden und die Erinnerungsstücke eines langen Lebens im fernen Ausland schienen zu ihm zu sprechen und ihre Geschichten zu erzählen. Pater Pius stopfte sich eine langstielige Pfeife, während er Sina aufmerksam betrachtete.
»Seien Sie einem alten Mann nicht böse, aber ich glaube, ich habe Sie bereits irgendwo gesehen. Mein Gedächtnis lässt mich hin und wieder im Stich und deshalb weiß ich im Moment nicht so richtig, wo ich Sie einordnen soll.«
Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen, Pater, ich weiß nicht, ob ich mich in Ihrem Alter noch an meinen Namen erinnern werde oder ob nicht alles in ein gnädiges Vergessen gleitet.«
Pater Pius hob seine Hand. »Halt, ich glaube, ich weiß es wieder, sagen Sie nichts. Sie sind Professor Sina, der Mittelalterforscher, habe ich Recht?« Der alte Missionar zog an seiner Pfeife, schaute Sina an und nickte. »Ja, ich habe Recht. Ich habe früher Ihre Veröffentlichungen mit Freude verfolgt. Sie sind ein alter Sturkopf, ein Querdenker, ein Enfant terrible der Geschichtswissenschaft.« Sina lachte und Pater Pius stimmte ein. »Na gut, das ›alt‹ nehme ich zurück«, meinte er dann schelmisch. »Was kann ein greiser Mann wie ich für Sie tun, außer Ihnen die Zeit zu stehlen?«
»Pater Pius, der Provinzial hat uns erzählt, dass Sie mehr als siebzig Jahre lang in China gelebt und missioniert hätten. Er hat Sie als passionierten Forscher beschrieben, als Kenner der chinesischen Geschichte, von Land und Leuten. Wir brauchen Ihre Erinnerung, Ihr Wissen und ein wenig Ihrer Zeit«, sagte Sina und der alte Missionar lächelte.
»Zeit habe ich genug, Erinnerungen zu viele und Wissen, ach Gott, Wissen wahrscheinlich viel zu wenig. Aber ich helfe Ihnen gerne, wenn ich kann. Was möchten Sie denn erfahren?«
»Können Sie uns etwas über den ersten Kaiser von China erzählen, der in der Nähe von Xi’an begraben liegt?«
»Qin Shihuangdi, der erste erhabene Gottkaiser von Qin, eine widersprüchliche Persönlichkeit, aber bis heute ein faszinierender Mensch.« Pater Pius schaute nachdenklich dem Pfeifenrauch nach, der sich in leichten Windungen an die Decke kräuselte.
»Schwierig, irgendwo zu beginnen«, meinte er langsam. »Er führte zukunftsweisende Reformen durch und einte ein Reich, das fast die gesamte damals in China bekannte Welt umfasste. Er standardisierte die Gewichte, die Längenmaße und die Münzwerte, aber er stützte sich auch auf Zwangsarbeit und seine Gewaltherrschaft
Weitere Kostenlose Bücher