Ewig
»Wochentags musste Joseph, wie der Golem in den Legenden heißt, arbeiten und das Ghetto beschützen, aber am Sabbat war der Name Gottes zu entfernen, dass das Geschöpf ruhen konnte.«
Paul lächelte froh. »Selbst der Golem musste sich irgendwann einmal ausruhen!«
Valerie blieb ernst. »Als Rabbi Löw einmal vergaß, den heiligen Ruhetag zu ehren und den Namen zu löschen, geriet der Golem außer Kontrolle. Er war außer Rand und Band und musste vernichtet werden. Seine Überreste sucht man bis heute auf dem Dachboden der Altneu-Synagoge in Prag. Jedoch vergeblich.«
»Tut mir leid, aber das klingt mir alles zu sehr nach alten Märchen, um kleine Kinder zu erschrecken«, stellte Paul entschieden fest und schüttelte den Kopf. »Auch wenn es scheinbar dazu passt, ich glaube nicht, dass Friedrich sich mit Kabbala beschäftigt hat, immerhin einer jüdischen Geheimlehre und er war christlicher Kaiser. Das Mittelalter ist nicht gerade für seine religiöse Toleranz bekannt.«
»Genau das habe ich auch Sha …, meinem Führungsoffizier auch gesagt. Aber andererseits besteht Friedrichs Motto doch auch aus den fünf Buchstaben AEIOU«, gab Valerie zu bedenken, »fünf Buchstaben, hinter denen ihr seit Beginn dieser Geschichte her seid.«
»Am Anfang erschuf Gott das Wort. Es steht bereits am Beginn der Thora: Bereschit bara Elohim – Am Anfang schuf Gott … Damit ist die Macht der Sprache als solche gemeint, die mehr als nur ein Mittel der Verständigung zwischen den Menschen ist«, unterstrich Valerie ihre Überlegung. »Und Sprache gründet auf Buchstaben und Wörtern. Der Kabbala zum Beispiel liegt die Vorstellung zugrunde, dass die hebräischen Buchstaben die ganze Schöpfung tragen und sie zum Ausdruck bringen.«
»Ein weiter Bogen, den du hier schlägst«, meinte Wagner, »und ich vermisse noch immer den direkten Zusammenhang mit Kaiser Friedrich.«
»Ich weiß, worauf Valerie hinauswill«, sprang ihr Georg zur Seite. »Bis auf das Aleph, dem A, einem der drei ›Mütter‹, beinhaltet die hebräische Quaderschrift keine Vokale. Sie müssen vom Leser der Texte an der richtigen Stelle eingefügt werden. Die Konsonanten stehen für die Knochen, die unbelebte Materie, oder das männliche Prinzip. Die Vokale für den lebendigen Atem Gottes, der dem Körper als weibliches Prinzip Leben gibt.«
»Heilige Mutter Gottes!«, entfuhr es Paul.
»Ziemlich genau auf den Punkt gebracht, mon cher. Alle Hinweise Friedrichs sind, oder waren ursprünglich, Maria gewidmet«, meinte Georg. »Und AEIOU haucht demnach als weibliches Prinzip Leben ein.«
Georg kramte ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Tasche. »Ich habe mir vor einigen Tagen diese Liste geschrieben, auf der ich die wichtigsten Bedeutungen des AEIOU gesammelt hatte. Wie ihr wisst, gibt es ja hunderte, aber diese hier sind jene, die am meisten in der Literatur genannt werden:
Austriae est imperare orbi universo – Es ist Österreich bestimmt, die Welt zu beherrschen.
Austria erit in orbe ultima – Österreich wird im Erdkreis das letzte (Land) sein.
Augustus est iustitiae optimus vindex – Der Kaiser ist der beste Beschützer der Gerechtigkeit.
Austria est imperatrix omnis universi – Österreich ist die Herrscherin der ganzen Welt.
Der Wissenschaftler schaute nachdenklich auf das Blatt in seiner Hand. »In Verbindung mit dem Geheimnis bekommen diese Auslegungen plötzlich eine ganz gewichtige Bedeutung, findet ihr nicht auch?«
Paul hob die Hand, unterbrach Georg damit und schaute Valerie durchdringend an. »Was haben sie dir noch gesagt, bevor du auf deinem Weg nach Wien warst?«
»Ich weiß nicht, wie viel sie mir noch verheimlicht haben, das habe ich mich seitdem auch immer wieder gefragt«, gab Valerie zu. »Ich weiß nur eines. Der israelische Geheimdienst nimmt die beiden Kaiser, Qin Shihuangdi und Friedrich, sehr, sehr ernst. Wem immer es auch gelingen sollte, das Geheimnis des ewigen Lebens zu entdecken, das Wissen zu finden, wie die Uhr in den Zellen anzuhalten wäre, dem gehört die Welt.«
Als Wagner, Sina und Goldmann wenig später in den Grazer Dom eintraten, war es mit einem gemischten Gefühl und einer ganz neuen Sicht der Dinge. Sie suchten nicht mehr nach Hinweisen, die auf eine Erklärung warteten. Sie hatten das Rätsel gelöst, sie kannten das Geheimnis Friedrichs und nun sahen sie mit offenen Augen und fanden ihre Vermutung bestätigt, wohin sie auch blickten.
Paul ging langsam durch die geschnitzten Bankreihen und
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