Ewig
dem Fenster.
»Als Friedrich mit dem Bau der Grazer Burg begann, nahm er auch den Neubau der Kirche in Angriff. Sie ist dem heiligen Ägydius geweiht und es existierte einmal ein Verbindungsgang zwischen der Burg und dem Dom, der aber im 19. Jahrhundert abgerissen wurde.« Valerie hörte nur mit halbem Ohr zu und ließ die drei Männer nicht aus den Augen, die gerade die Hofgasse überquerten.
»Lasst uns doch hinübergehen und einen Blick in die Kirche werfen«, rief Paul von unten. Er lehnte am Fuß der Treppe an der Wand und genoss die Sonnenstrahlen, die immer häufiger und wärmer durch die Wolkendecke fielen. Es roch endlich nach Frühling. Valerie stieß sich ab und rannte die Wendeltreppe hinunter, Georg sah ihr erstaunt nach. Paul hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und war bereits auf dem Weg über den Burghof.
»Hier haben wir doch alles gesehen«, murmelte er vor sich hin, »wir sind den ›doppelt gewundenen Weg nach oben‹ geschritten und …« Er verstummte mit einem Mal. Die Welt schien rund um ihn zu versinken und er ging wie ein Traumwandler zu einer der Bänke, die auf der weiten Fläche des Burghofs aufgestellt waren. Er setzte sich und sein Blick war starr geradeaus gerichtet, aber er sah nichts von dem, was rund um ihn vorging. Seine Gedanken rasten, schoben Teile des Rätsels in ihre richtige Position, stellten Querverbindungen her, verbannten Unwichtiges in den Hintergrund und kramten Erinnerungen hervor, die sich in den letzten Tagen und Wochen in Ecken seines Gedächtnisses eingenistet hatten. Valerie kam angelaufen, sah ihn an und setzte sich besorgt neben ihn. Paul hob nur abwehrend die Hand, blieb in seiner eigenen Gedankenwelt. Noch war vieles zu ordnen …
Goldmann schaute nach links und rechts, suchte die drei Männer, aber sie hatte sie aus den Augen verloren. Waren sie in den Dom gegangen? Auf der Straße waren sie nicht mehr zu sehen. Georg Sina kam und ließ sich auch auf die Bank fallen, schaute Paul und Valerie erstaunt an.
»Was ist denn mit euch los? Habt ihr einen Geist gesehen?«, fragte er überrascht, als er den konzentrierten Gesichtsausdruck Wagners sah und die suchenden Blicke von Valerie.
»Georg, ich hab’s!«, rief Paul mit einem Mal aus. »Es war ganz logisch, von Anfang an, aber wir haben es nicht sehen wollen, nicht sehen können, weil es so ungeheuerlich ist.« Valerie und Georg schauten ihn neugierig an und Goldmann vergaß für einen Moment die Unbekannten.
»Was ist so ungeheuerlich?«, erkundigte sich Sina stirnrunzelnd und lehnte sich interessiert vor.
»Friedrichs Geheimnis«, meinte Wagner ernst und stützte den Kopf in die Hände.
»Warte einen Moment«, sagte Georg und legte die Hand auf Pauls Schulter, »willst du mir sagen, dass du es herausgefunden hast? Jetzt und hier? Einfach so?«
Wagner schüttelte den Kopf. »Nicht einfach so, ganz im Gegenteil. Wenn die Treppe nicht gewesen wäre …«
Georg war ratlos. »Was ist an der Treppe so Besonderes, um Gottes willen, dass …« Plötzlich verstummte er und ein Leuchten trat in seine Augen. »Die Doppelhelix, natürlich …«, flüsterte er, »Friedrich kannte die Doppelhelix …«
Paul nickte, während Goldmann verständnislos von einem zum anderen blickte.
»Warum habe ich gerade das Gefühl, blind zu sein?«, seufzte sie.
»Du bist nicht blind, Valerie, nicht blinder als wir«, beruhigte sie Paul. »Aber der Kaiser hatte ein halbes Leben, um sein Geheimnis zu verschlüsseln. Er erdachte Geheimschriften, entwarf ein Monogramm und nahm sich fünfzig Jahre Zeit für sein Grabmal. Er ließ Kirchen bauen, Altäre malen und hinterließ selbst seinem Sohn die Anweisung für den Bau des letzten Hinweises. Aber er hinterließ ihm nicht das Geheimnis, weil es zu furchtbar war.«
Georg saß nachdenklich daneben und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Plötzlich fiel alles an seinen Platz, alle Steine passten mit einem Mal an die richtige Stelle. Was für eine unglaubliche Idee … Er zog aus seiner Tasche den Umschlag mit dem Vermächtnis heraus und suchte nach dem passenden Absatz. Dann erklärte er aufgeregt: »Hört zu. Mertens warnte uns drei Mal gleich zu Beginn.« Dann begann er zu lesen:
»Einmal vor der Macht, die korrumpiert und uns vergiftet, einmal vor der Gier, die uns von innen heraus zerfrisst und einmal vor der Sucht, die uns noch dann weitertreibt, wenn alles verloren scheint. Du wirst auf diesem Weg allen dreien begegnen und sie werden Dich vernichten, wenn Du nicht
Weitere Kostenlose Bücher