Ewige Nacht
Geheimdienst des Apartheidsregimes, zusammengetragen worden. Darin wurde Ralf Denks Tätigkeit in der Anti-Apartheids-Bewegung geschildert. Er war damals mehrfach verhaftet worden.
Einer der sonderbarsten Aspekte der ganzen Sache aber war der Kongo. Warum wollte jemand eine Kernladung in einem der elendsten Winkel der Welt hochgehen lassen?
Das Land und sein »Entdecker« Leopold II. hatten Timo interessiert, seit er nach Brüssel gezogen war und die düsteren, blutigen und durch und durch neurotischen Kolonialbeziehungen zwischen Belgien und dem Kongo kennen gelernt hatte. Auf Märkten und in Trödelläden war er auf Gegenstände gestoßen, die von Elfenbeinhändlern, Offizieren der Force Publique , von Missionaren oder Dampfschiffkapitänen stammten. Einmal hatte er auf dem Flohmarkt Jeu de Balle einen alten, aber rüstigen Mann gesehen, der versonnen eine Chicotte -Peitsche befühlte, als hätte er sie in jungen Jahren eigenhändig im Kongo benutzt.
Timo besaß selbst einige Gegenstände aus dem Kongo: eine rote Ritualmaske und eine 1902 in Brüssel erschienene Jubiläumsnummer von ›Le Congo Illustré‹, auf dessen Titel Leopold II. zu sehen war. Der große Mann hatte ernste, braune Augen, eine gerade Nase und einen gewaltigen, mit dem Alter weiß gewordenen, schaufeiförmigen Bart. Kein Wunder, dass sein Äußeres für die Karikaturisten der europäischen Presse eine unversiegbare Quelle dargestellt hatte.
Es war eigenartig, wie aus dem König eines kleinen, schnell demokratisch werdenden europäischen Staates der totalitäre und blutbefleckte Eigentümer eines riesigen afrikanischen Imperiums hatte werden können. Leopold II. war die Verkörperung von Habgier, Intelligenz und menschlicher Schwäche.
Andererseits erschloss sich Timo manches, wenn man Leopolds Vater betrachtete oder Leopolds Kindheit. Dort entstanden – das wusste Timo nur zu gut – die Probleme des Erwachsenen. Nicht, dass Timos Kindheit mit der Leopolds im Schloss von Laeken vergleichbar gewesen wäre. Leopolds Vater war der erste König des unabhängig gewordenen Belgien gewesen, und wenn der kleine Leopold ihn sehen wollte, musste er um eine Audienz bitten. Hatte der Vater seinem Sohn etwas zu sagen, ließ er es ihm durch seinen Sekretär übermitteln.
Timo hatte sich stets für die Briten interessiert, weil sie auch nicht vor den exzentrischsten Hobbys und ausgefallensten Objekten der Leidenschaft zurückscheuten. Es überraschte ihn folglich auch nicht, als er erfuhr, dass Leopold ein Cousin der Königin Viktoria war. Nachdem Leopold mit dreißig Jahren den Königsthron eingenommen hatte, widmete er sich fortan mit verzweifelter Leidenschaft seinem liebsten Hobby: den Kolonien. Er machte sich mit den Besitzungen Englands in Indien, Ceylon und Burma vertraut. Er besuchte die Westindischen Inseln, die zu seinem großen Bedauern dem benachbarten Holland gehörten, das sich – so klein es war – nicht daran hindern ließ, sich ergiebige Kolonien zu beschaffen. Mit den Erträgen der Kaffee-, Zucker-und Baumwollanpflanzungen von Java wurden die Eisenbahnlinien und Kanäle des Mutterlandes gebaut. Leopold interessierte sich auch deshalb besonders für das holländische System, weil es einer privaten Firma das Handelsmonopol einräumte. Zufällig war der größte Aktienbesitzer dieser Firma der holländische König …
Der zweite Aspekt, der Leopolds II. Geschäftsinstinkt weckte, war, dass die javanischen Vorarbeiter von den holländischen Plantagenbesitzern Bonuszahlungen je nach Ernteerträgen erhielten. Und der dritte interessante Punkt war der Einsatz von Zwangsarbeit. Das war wirtschaftlich enorm lukrativ, und gleichzeitig erklärte man, man bringe das Licht der Zivilisation in die Finsternis des wilden Mannes.
Sie parkten in der Adolphe Buy und Timo ging zu seinem Arbeitsplatz. In den Gesichtern seiner Kollegen stand die blanke Anspannung. Die Stimmung auf den Fluren von TERA erinnerte ihn sofort wieder an die anderen Situationen, in denen Geheimdienstinformationen über konkrete Bedrohungen eingetroffen waren: Rizin-Anschlag in der Londoner U-Bahn, Bombenattentat auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg, Abschuss eines Marschflugkörpers auf den Flughafen Heathrow. Doch das, was sie jetzt gerade erlebten, war mit nichts zu vergleichen: Auf ihnen allen lag eine Verantwortung von unfassbaren Dimensionen.
Die Köpfe der Beamten, die im Besprechungsraum im zweiten Stock zusammengekommen waren, drehten sich zu Timo um, als er den
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