Ewige Versuchung - 5
bekam eine Gänsehaut. Vivian hatte eine liebliche, süße Stimme, doch sie war es nicht, was ihm so überirdisch vorkam. Ihm war, als könnte er verstehen, was sie sang, obgleich die Worte überhaupt keinen Sinn ergaben. Sie handelten von Liebe und Trost, Wärme und Süße. Ein Wiegenlied?
Ein sehr altes Wiegenlied.
In stiller Ehrfurcht bezeugten die beiden Männer, wie eine madonnengleiche Ruhe sich über Olivias eben noch angespannte Züge legte. Vivian ließ ihre Hand auf Olivias Bauch und massierte ihr mit der anderen sanft die Stirn, strich ihr übers Haar.
Wie eine Mutter.
Ein kleiner Schauer lief Temple über den Rücken. Er war zwar nicht unangenehm, aber seine Geliebte so zu erleben, rief das seltsame Gefühl in ihm hervor, sie wäre nicht ganz sie selbst. Vielleicht bildete er es sich ein, lag es an der Beleuchtung oder an seiner romantischen Natur, jedenfalls veränderte sie sich vor seinen Augen. Ihm schien, als wäre das nicht Vivian, die seines Freundes Frau umhegte, sondern Lilith selbst, die einem ihrer Kinder Liebe und Kraft schenkte, ihren Zauber mittels Blut und Gesang wirkte.
»Sie ist erstaunlich«, murmelte Reign, dessen Stimme vor Dankbarkeit und Erleichterung belegt war.
»Das ist sie«, pflichtete Temple ihm bei. Und als Vivian die Augen öffnete und ihn ansah, war er überglücklich, nichts als sie in ihrem Blick zu erkennen. Die Kraft, die er darin sah, erfüllte ihn mit Demut.
Nun begriff er, warum die Frauen hier sie für eine Göttin hielten.
Sie war eine.
Kapitel 17
S päter am Morgen schrieb Vivian eine Antwort an Villiers, die sie wie befohlen unter der Statue deponierte. Dann wechselte sie sich mit Marcus ab, die Stelle von hinter einer Gartenhecke aus zu beobachten.
Wachehalten war ein ödes Unterfangen, weshalb Marcus es sich verkürzte, indem er seine archäologische Ausrüstung mitnahm und an einem vielversprechenden Flecken nahe der Hecke ein Loch zu graben begann. Sehr zu seiner Überraschung entdeckte er einige Tonscherben, die durchaus römischen Ursprungs sein mochten. Genaueres wüsste er, sobald er sie gereinigt hatte. Er war so zufrieden mit seiner Arbeit, dass er beinahe nicht bemerkte, wie eine Frau in den Garten kam und geradewegs auf die Lilith-Statue zusteuerte.
Das Knirschen von Stein auf Stein jedoch veranlasste ihn, seinen Kopf zu heben und durch die Sträucher zu linsen.
Eine Hausmagd öffnete das Geheimfach unter der Statue und entnahm ihm den Brief. Es war Agnes. Marcus erinnerte sich, sie mit Vivian in der Küche gesehen zu haben. Die Frau schob den lockeren Stein wieder zurück an seinen Platz, schaute sich kurz um und eilte davon. Den Brief steckte sie in ihre Schürzentasche.
Interessant! Marcus zog seine Handschuhe aus, rollte das Lederbündel mit seinen Instrumenten zusammen und machte sich auf den Weg ins Haus. Vivian und die anderen warteten im verdunkelten Salon auf ihn. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich vom hellen Sonnenschein umgestellt hatten.
»Sie sind früh dran«, sagte Temple. »Was haben Sie herausgefunden?«
Marcus drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Noch war er praktisch blind. »Es ist Agnes.«
Es war Vivians Stimme, die einen unglücklichen Laut ausstieß, bevor sie sagte: »Ich kann nicht glauben, dass Agnes die Schwesternschaft verrät.«
»Das tut sie auch nicht, wie ich denke«, entgegnete Marcus, der sie nun endlich sehen konnte. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie in dem Glauben handelt, sie würde der Schwesternschaft helfen.«
Temple nickte zustimmend. »Auf jeden Fall wäre das einfacher, als sie zu überzeugen, dass alles, woran sie glaubt, falsch ist.«
Marcus blickte kurz zu Vivian, die schwieg, und fragte sich, wie es ihr mit dem Wissen erging, dass alles, was sie früher gedacht hatte, falsch war.
»Ich nehme die nächste Fähre aufs Festland«, erklärte er. Es war nun fast Mittag, und neben Vivian und Molyneux war er der Einzige, der das Haus verlassen konnte. »Ich bin sicher, dass Agnes mit auf der Fähre sein wird.«
»Und was dann?«, wollte Chapel wissen. »Es dürfte ihr Misstrauen erregen, dich auf der Fähre zu sehen.«
Marcus nahm seinen »geliehenen« Siegelring aus der Tasche. »Nicht, wenn ich den hier trage.«
Temple sprang sofort auf. »Woher zum Teufel haben Sie den?«
»Ich war so frei, ihn einem Mann abzunehmen, der mich angriff«, erklärte Marcus gelassen. »Ich dachte mir, er könnte sich eines Tages als nützlich erweisen, und wie es scheint,
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