Rausch. In der Bank arbeiten wir an einer Megafusion, das wird wie eine Bombe einschlagen. In meinem Team ist jetzt auch Brian, frisch aus den Staaten eingeflogen. Geschlafen habe ich schon seit Tagen nicht mehr, jedenfalls nicht allein. Und du?
Wie geht’s Jule? Sie hat mir ein paarmal auf den AB gesprochen. Hab’s nicht ganz verstanden, aber da gibt es wohl ein Problem mit ihrer neuen Freundin? Und mit irgendeiner … Garonz? Was ist da los? Sei nett zu meiner Nichte!
Wie geht es dir?
Muss jetzt mit wichtigem Aufsichtsrat lunchen.
Bis bald, deine große Schwester ;-)
To:
[email protected] From:
[email protected] Date: 16. September, 22:40
Re: Re: Lebenszeichen
Liebe Bettina,
danke für deine Mail. Wenn deine Funkstille an Brian und sonstigen Fusionen lag, bin ich ja ganz beruhigt. Um mich brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Der Job läuft wirklich gut, die meisten »Schüler« haben die Pubertät schon vor mindestens vier Jahrzehnten abgeschlossen und sind ziemlich motiviert. Das ist zur Abwechslung auch mal ganz nett.
Weniger gut klappt es mit Jules Tagesmutter. Sie ist ziemlich streng, Stil Gouvernante. Aber das wird sich schon noch einspielen. Glaub einfach nicht alles, was Jule dir vielleicht über Garance erzählt.
Und dann ist da noch Chloé, Jules neue Freundin. Jule will mit ihr spielen, sie besuchen, sie zum Übernachten einladen, mit ihrer Familie in Urlaub fahren, am besten gleich ihre Schwester werden. Na ja, das ist ja in diesem Alter so üblich. Aber diese Familie, also vor allem der Vater – eine echte Zumutung, dieser Typ! Deswegen habe ich mich auch seit zwei Wochen standhaft geweigert, Jule ein Date mit Chloé zu gewähren. Und seit zwei Wochen liegt mir Jule pausenlos in den Ohren, dass Chloé sie schon sooo oft eingeladen habe und dass ich doch endlich einen Termin mit den Eltern vereinbaren sollte. Dabei ist das gar nicht möglich, glaub’s mir!
Nachmittags wird das Mädchen immer von einer jungen Frau abgeholt, die ihrem Alter und meinen Erfahrungen nach eigentlich nur eine Babysitterin sein kann – und zwar eine, gegen die Ralphs Alina aussieht wie ein hässliches Dickerchen: Sophie Marceau meets Juliette Binoche, und das auch noch vor 20 Jahren. Kannst du dir das vorstellen? Wahrscheinlich ist sie es, die Chloé immer so rausputzt. Dieser Vater in seinem Schmuddel-Look jedenfalls nicht. Für diese Sophie Binoche bin ich jedenfalls nur Luft. Sie spricht einfach nicht mit mir. Kontaktaufnahme bisher gescheitert. Jule beschreibt die Funktion dieser Frau so, als sei sie die persönliche Zofe ihrer Freundin. Babysitter also. Jule erzählt auch, dass Chloés Mutter mit einer goldenen Kutsche davongefahren sei und dass im Schlosspark ihrer Freundin Einhörner grasen. SimsalaGrimm pur.
Tja, und morgens taucht an der Schule immer nur der wortkarge Angeber-Vater auf, um den ich aber aus Rücksicht auf meine Nerven leider einen extragroßen Bogen machen muss. Mit ihm bin ich nämlich schon am ersten Schultag aneinandergeraten. Lange, unschöne Geschichte. Der fährt übrigens eine grüne Ente. Weißt du noch? Früher haben wir uns immer in den Arm gekniffen, wenn wir eine gesehen haben. Die sind ja selten geworden. Und sein Modell gehört eigentlich auch bestenfalls ins Museum. Das hat sogar noch ein schwarzes Kennzeichen und gelbe Scheinwerfer. Steinzeit.
Jedenfalls wird es dabei bleiben, dass Jule ausschließlich in der Schule mit Chloé spielt. Nur damit du Bescheid weißt, falls sie dich anruft. Du kannst ihr ja sagen, dass sie ja sowieso fast den ganzen Tag in der Schule ist. Ein Date mit Chloé ist also völlig überflüssig.
So, ich mache jetzt mal Schluss. Ich habe wohl wieder viel zu lang erzählt für deine knappe Zeit. Außerdem muss ich dringend schlafen. Ich habe eine wirklich anstrengende Woche hinter mir, ob du’s glaubst oder nicht. Noch ein Tag, dann ist Wochenende!
Lieben Gruß
Anja
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Freitag, 17. September, 08:25
Auf dem Weg zur Schule
Jule hat es eilig. Sie schleift mich hinter sich her, um so schnell wie möglich bei der Schule anzukommen. Unser Weg führt uns wie üblich erst zur Tabac-Bar gegenüber der Bäckerei, dann am Tante-Emma-Laden an der Ecke des Dorfplatzes vorbei und schließlich am Rathaus oben auf dem kleinen Hügel entlang. »Komm, Mama, jetzt beeil dich doch mal. Vielleicht treffen wir ja heute endlich Chloés Vater, hoffentlich!«
Hoffentlich nicht.
»Ich will, dass ihr uns endlich