Ex en Provence
Phänomen. Aber auch Gerard Dépardieu und schon Jean-Paul Belmondo sind ja ganz objektiv keine Schönheiten.
Allerdings beschränkt sich diese Schwäche der Franzosen für das eher Unvollkommene leider auf Autos und Männer. Bei Frauen gelten ja eher Carla-Bruni-Standards – die Nathalie voll erfüllt.
Sie trifft jetzt bei mir ein, etwas außer Atem, aber lächelnd wie immer, und drückt mir die obligatorischen Begrüßungsküsse auf die Wangen.
»Ça va?«, erkundigt sie sich.
»Ça va«, antworte ich und fühle mich wieder ein bisschen französischer. Denn selbst wenn es einem noch dreckiger geht als mir heute Morgen, ist das immer noch die richtige Antwort.
»Habt ihr euch gut von eurer Krankheit erholt?«, fragt Nathalie weiter. »Wie waren die Ferien?«
»Wunderbar.«
Von ein bis zwei ziemlich nervigen Ex abgesehen.
»Schön. Am Meer war es auch toll. Und heute Morgen sind wir wohl beide ein bisschen spät dran«, lächelt Nathalie. »Wir haben Camilles Schulrucksack nicht gefunden! Alex hatte ihn in der Gefriertruhe versteckt, um seine Schwester zu ärgern. Tja. Und was war bei dir los?«
»Ach, gestern Abend ist es spät geworden. Ich musste unterrichten, und dann tauchten auch noch meine Chefin und Philippe auf.«
»Geht es ihm besser?«, fragt Nathalie jetzt auf Deutsch. »Ihn hat doch euer Date auch krank gemacht, oder?«
Hm. Das kann nur ein Sprachproblem sein.
»Ja, er war auch krank. Aber danach war er in seinem Skiurlaub, und er hat mich nicht angerufen.«
»Was? So ein Schuft.«
»Ja, Funkloch, sagt er. Aber er hat mich seltsamerweise trotzdem mit Liebes- SMS überhäuft. Und mit Blumen.«
»Blumen?«
»Ja, eine Rose täglich. Per Bote.«
»Oooh, wie romantisch. Und hat sich ein neuer Termin für eure Paris-Reise gefunden?«
»Nein. Davon ist keine Rede mehr.«
»Hm. Also, ich weiß ja nicht. Lass ihn ordentlich zappeln, dann wirst du schon sehen, ob er es ernst meint oder nicht.«
»Er hat mir ein Kochbuch geschenkt. Für Verliebte!«
»Eh, oui! Aber zu deinem nächsten Date mit wem auch immer gehst du auf jeden Fall nicht in diesem Aufzug, oder?«
Ich blicke an mir herunter. In der Eile war ich vorhin in meine Jeans gesprungen, hatte mir meine Strickjacke übergeworfen und war mit meinen Socken aus Bio-Baumwolle in meine Birkenstock geschlüpft. Ich bin natürlich ungeschminkt, habe es gerade mal so geschafft zu duschen und meine noch feuchten Haare nur schnell zu einem Zopf zusammengebunden, so dass an den Schläfen jetzt wohl die grauen Strähnen besonders gut zur Geltung kommen.
Ich muss Nathalie eine ganze Weile mit offenem Mund angestarrt haben. Und jetzt bringe ich – so als wandelnder Faux-pas – nur ein entschlossenes »Äh …« heraus.
Nathalie legt ihre Hand auf meinen Oberarm. »Oh, entschuldige, Anja. Das meinte ich nicht so. Aber als ich dich da so gesehen habe, dachte ich mir, dass du dir vielleicht deines Outfits gar nicht so bewusst warst …«
In Berlin wäre ich vor Jules Kindergarten überhaupt nicht aufgefallen. Man hätte mich höchstens gefragt, ob ich mir denn so leicht bekleidet mitten im November den Tod holen will und ob die Birkenstock aus Filz oder Nubuk-Leder sind.
»Ist schon gut. Wie hast du es denn geschafft, hier so perfekt aufzulaufen?«, frage ich und deute auf ihre seidig geföhnten Haare, ihr dezentes Make-up, die elegante Hose, die ihre superschlanken Beine umspielt und bis über die High Heels reicht. Letztere dürfte sie in ihrem Krankenhaus wohl kaum gebrauchen können, aber für den Fünf-Minuten-Auftritt vor der Schule sind sie offenbar absolut unentbehrlich.
Nathalie kichert: »Na, ich bin eben richtig zu spät gekommen. Nicht nur ein bisschen.«
»Nathalie, darf ich dich was fragen?«
»Klar, alles. Immer.«
»Sind deine Beine epiliert? Auch jetzt, meine ich, mitten im November, unter der Hose, auf dem Weg ins Krankenhaus, zur Arbeit?«
»Ja, natürlich. Man weiß ja nie. Habe ich gestern Abend erledigt. Aber ich bin eigentlich auch ein bisschen nachlässig«, fügt Nathalie hinzu, wohl um mich zu trösten. »Pardon Anja«, sagt sie und wirft sich ihren Seidenschal über die Schulter. »Ich muss jetzt wirklich zur Arbeit, eigentlich hätte ich schon vor einer Stunde anfangen müssen.«
Vor einer Stunde? Na, da bist du ja fast noch pünktlich. Immer schön lässig bleiben!
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Etwas deprimiert gehe ich durch die blasse, aber immer noch angenehm wärmende Herbstsonne nach Hause. Ein bisschen sehne ich mich jetzt nach
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