Exil im Kosmos: Roman (German Edition)
Faktor. Er hatte in dieser Zeit gelernt, dass er Einsamkeit ertragen konnte, dass er sogar in ihr gedieh. In der Einsamkeit entwickeln wir alles, nur nicht Charakter, hatte Stendhal geschrieben; Müller war dessen nicht ganz sicher, jedenfalls glaubte er, dass sein Charakter bereits voll ausgebildet gewesen sei, bevor er angefangen hatte, Aufträge zu übernehmen, die ihn allein zu menschenleeren und gefährlichen Welten führten. Er hatte sich zu diesen Unternehmungen freiwillig gemeldet. In einem anderen Sinn hatte er sich freiwillig für das Einsiedlerleben auf Lemnos entschieden, und dieses Exil war ungleich härter und schwieriger als jene früheren Abwesenheiten, hinter denen immer eine Rückkehr gewartet hatte. Doch er kam zurecht und wusste sich zu bescheiden. Seine eigene Anpassungsfähigkeit erstaunte ihn. Er hatte vorher nicht geglaubt, dass er den geselligen Teil seiner Natur so leicht würde abschalten können. Der sexuelle Teil war schwieriger, doch auch nicht so schwierig, wie er sich vorgestellt hatte; und der Rest – die Anregung von Gesprächen, der Wechsel von Umgebungen, persönliche Beziehungen, die Freuden der Tafel und was es sonst noch geben mochte – hatte sehr bald aufgehört, in seinem Denken eine Rolle zu spielen. Er hatte genug Lesestoff und Musik für seine geistigen Bedürfnisse, und das Überleben in diesem Labyrinth bot genug Herausforderungen. Außerdem hatte er seine Erinnerungen.
Er konnte Erlebnisse von hundert Welten in sein Gedächtnis zurückrufen, wenn er wollte. Delta Pavonis VI, zum Beispiel: zwanzig Lichtjahre entfernt und mit Bewohnern, die sich ihrer Mutterwelt von Jahr zu Jahr mehr entfremdeten. Sie nannten ihren Planeten Loki, was Müller als eine grobe Fehlbenennung empfand, denn Loki war gewandt, schlau und schmächtig von Wuchs, während die Siedler auf Loki, seit fünfzig Jahren von der Erde isoliert, einem Verfettungskult huldigten. Müller hatte sie einige Jahre vor seiner folgenschweren Reise nach Beta Hydri besucht. Seine Mission hatte den Zweck gehabt, Möglichkeiten zur Wiederherstellung engerer Kontakte zwischen der Erde und diesem Planeten zu prüfen, der die Berührung mit seiner Mutterwelt verloren hatte. Es war ein warmer Planet, bewohnbar nur in den gemäßigten Zonen des Nordens und Südens, die allerdings von paradiesischer Fruchtbarkeit waren und ihren Bewohnern ein angenehmes Leben ohne die Mühseligkeiten des üblichen Kolonistendaseins boten. Er erinnerte sich, wie er auf einem trägen, braunen Fluss zwischen grünen Dschungelwänden dahingeglitten war; von sumpfigen Flussinseln herüberspähende Tiere mit Rubinaugen; und dann die Siedlung auf einem Hochufer des Flusses, wo schwitzende Buddhagestalten zwischen hundert und zweihundert Kilo Lebendgewicht in würdevoller Meditation vor schilfgedeckten Hütten saßen. Nie zuvor hatte er soviel Fleisch pro Kubikmeter gesehen. Die Lokiten, von einer großzügigen Natur mit essbaren Früchten, Pflanzen und Knollen förmlich überschüttet, umgeben von einer artenreichen Fauna mühelos zähmbarer oder jagdbarer Tiere, hatten das Schlaraffenleben zur Tugend erhoben: fett zu sein, war ihnen erstrebenswertes Ziel und Schönheitsideal, und mit dem Leibesumfang wuchs das Ansehen. Müller erinnerte sich an Arme, die wie Schenkel aussahen, Schenkel, die wie Säulen waren, Bäuche, die sich in triumphalem Exzess wölbten.
Dem Spion von der Erde hatten sie in großzügiger Gastfreundschaft eine Frau angeboten. Für Müller war es eine Lektion in kultureller Relativität gewesen; denn es gab zwei oder drei Frauen im Dorf, die, obschon üppig genug, in der lokalen Bewertung als dürr galten und so Müllers eigenen Vorstellungen angenähert waren. Die Lokiten gaben ihm keine dieser Frauen, denn es wäre unhöflich gewesen, einem Gast das zu geben, was sie selbst für kärglich und unterentwickelt hielten. Statt dessen führten sie ihm einen prallen blonden Koloss zu, mit Brüsten wie Kanonenkugeln und Hinterbacken, die Berge von zitterndem Fleisch waren.
Es war jedenfalls unvergesslich gewesen.
Noch viele andere Welten hatte es in seinem Leben gegeben. Er war ein unermüdlicher Reisender gewesen. Leuten wie Boardman hatte er die Feinheiten politischer Taktik überlassen; wenn es sein musste, konnte auch er subtil und staatsmännisch denken und handeln, aber er sah sich mehr als Forscher denn als Diplomat. Er hatte in arktischen Einöden gefroren, hatte an den Ufern rauchender Seen aus flüssigem Methan
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