Exil im Kosmos: Roman (German Edition)
sich. Schauen Sie her.« Müller zeigte auf eine der etwas abgeplatteten Seiten des Mastes. Rawlins folgte der Aufforderung. Wieder fing er Müllers Ausstrahlung auf, als er auf zehn Schritte herangekommen war, doch zwang er sich weiter, bis er neben dem anderen stand.
»Sehen Sie das?«, fragte Müller und tippte gegen den Mast.
»Ein Markierungsstrich.«
»Den habe ich gemacht. Zuerst versuchte ich ihn einzuritzen, aber dieses Metall ist so hart, dass ich nach stundenlanger Arbeit mit einem kristallinen Steinbrocken keine sichtbare Markierung hineinbringen konnte. Dann gab ich es auf und verwendete Fettstift. Ich habe diese Markierung regelmäßig kontrolliert. Im Verlauf eines Jahres dreht sie sich einmal ganz herum. Also sind diese Masten beweglich. Man kann es nicht sehen, aber sie rotieren langsam. Unablässig.«
»Sie müssen die Funktion eines Kalenders haben«, mutmaßte Rawlins. Er zog sich vorsichtig zurück, bemüht, sich die Einwirkung von Müllers Nähe nicht anmerken zu lassen. Seine Hände zitterten, er schwitzte. In seiner Rückzugsbewegung ging er langsam auf die andere Seite des Mastes. Auf fünf Meter war die Wirkung nicht so quälend, und er blieb stehen und sagte sich, dass er eine Toleranz dafür entwickle.
»Haben Sie die anderen auch laufend kontrolliert?«, fragte er interessiert.
Müller nickte. »Sie drehen sich alle. Den Mechanismus habe ich nicht gefunden. Unter dieser Stadt, müssen Sie wissen, gibt es ein phantastisches Gehirn. Es ist Hunderttausende von Jahren alt, aber es arbeitet immer noch. Er steuert die Drehung dieser Masten, regelt die Wasserversorgung und überwacht die Straßenreinigung.«
»Und es bedient die Fallen.«
»Und es bedient die Fallen«, sagte Müller. »Aber es ist mir nicht gelungen, eine Spur von ihm oder den riesigen, ausgedehnten Mechanismen zu finden, die von ihm gesteuert werden. Ich habe hier und dort Grabungen unternommen, aber wie tief ich auch komme, ich finde nur trockene, sandige Erde. Vielleicht werdet ihr Archäologen das Gehirn der Stadt ausfindig machen. He? Haben Sie irgendwelche Vorstellungen?«
»Bisher noch nicht.«
»Sie hören sich nicht sehr zuversichtlich an.«
»Ich bin es auch nicht. Zur eigentlichen Arbeit innerhalb der Stadt bin ich bisher noch kaum gekommen. Vorbereitung und Organisation nehmen enorm viel Zeit in Anspruch, wenn man es mit einer Fundstätte zu tun hat, wo jeder Schritt den Tod bringen kann.« Rawlins lächelte sein scheues Lächeln, was ihm eine Mahnung Boardmans eintrug, der ihn darauf hinwies, dass das scheue Lächeln immer eine Lüge vertuschen solle, und dass es nicht lange dauern könne, bis Müller drauf käme. Rawlins sagte: »Ich selbst war die meiste Zeit außerhalb der Stadt und leitete die Eintrittsoperationen. Und dann, als ich hereinkam, ging ich gleich hierher. Darum kann ich nicht sagen, was die anderen bisher entdeckt oder untersucht haben.«
»Werden sie die Straßen aufreißen?«, fragte Müller.
»Ich glaube es nicht. Wir graben nicht mehr soviel wie in früherer Zeit. Wir arbeiten mit Sensoren und Sonden und Ultraschall. Wäre diese Stadt verschüttet, begraben unter Flugsand oder Erdablagerungen, sähe es vielleicht anders aus; dann hätte man nach verheißungsvollen Voruntersuchungen wohl eine Flächenausgrabung in Angriff genommen.« Beeindruckt von seiner eigenen Improvisation, fuhr er eifrig fort: »Früher war die Archäologie natürlich destruktiv. Um herauszufinden, was in der Bestattungskammer unter einem Grabhügel war, wurde der ganze Hügel entzweigeschnitten und die Kammer aufgerissen. Heute bohren wir ein Loch und lassen eine Sonde hinunter. Das ist die neue Schule, verstehen Sie, in den Boden hineinzusehen, ohne zu graben, und Ausgrabungen nur dann vorzunehmen, wenn die Ergebnisse den Aufwand rechtfertigen und keine Gefahr besteht, Monumente der Vergangenheit zu zerstören …«
»Auf einem Planeten von Epsilon Indi«, sagte Müller, »grub eine Gruppe von Archäologen vor fünfzehn Jahren den altertümlichen Begräbnispavillon einer untergegangenen Rasse aus. Als sie das Bauwerk freigelegt hatten, erwies es sich als so baufällig und witterungsgefährdet, dass sie beschlossen, es Stein für Stein abzutragen und auf Betonfundamenten unter Verwendung der alten Steine wieder aufzumauern. Sie machten es sehr genau, aber der handelsübliche moderne Fugenkitt, mit dem sie arbeiteten, zersetzte die Steine, und zwei Jahre später stürzte der ganze Bau ein. Ich hatte zufällig
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