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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sagen werde, innerlich hatte er ein leises Lächeln. Dieses Lächeln bewahrte ihn davor, die Ruhe zu verlieren; denn schon hatten seine grauen Augen sich verdunkelt, gleich denen des Jungen.
    »Ich denke nicht daran«, sagte der jetzt frech, »Ihr Geld aufzuheben.« Er war aufgewühlt, er war außer Rand und Band. Als er den Artikel gelesen hatte, man hatte ihn ihm anonym zugesandt, war ihm blitzartig aufgegangen, warum Wiesener sich sträubte, ihm bei seinem Jugendtreffen zu helfen. Wut und Scham waren in ihm hochgestiegen wie nie in seinen achtzehn Jahren. Zum erstenmal ging ihm auf, daß es Menschen gab, die ihn schon seiner Geburt wegen für nicht vollwertig nahmen. Es war lächerlich, aber es war so. Er kannte die Gesetzgebung der Nazi nicht genau, aber soviel war sicher: unter seinen sechzehn Urgroßeltern war ein Jude,und wenn ihn das auch nicht ausschloß von den Rechten eines deutschen Durchschnittsbürgers, für eine gehobene Stellung machte ihn dieser Tropfen »unreinen Blutes« unmöglich. Geschichten stiegen ihm auf, die er über amerikanische Farbige gelesen hatte, über Mischlinge, Terzeronen, Quarteronen, Quinteronen, wie noch der Ururenkel eines Farbigen verfemt sei. Eine ähnliche Rassenarithmetik trieben jetzt die Deutschen. Er, Raoul de Chassefierre, ein Paria, ein Mestize, ein halfcast. Mit genießerischer Wut suchte er alle schmähenden Bezeichnungen zusammen, die er je gehört hatte.
    Raoul hatte scharfen Verstand. Er hätte den ganzen Un-Sinn der »Rassenlehre«, die Brüchigkeit ihrer Grundlagen und die Unmöglichkeit, aus solchen Theorien, selbst wenn sie stimmten, praktische Konsequenzen zu ziehen, genausogut aufzeigen können wie jeder andere logisch denkende Mensch; ja er besaß die Gabe, sich darüber mit noch schärferer Ironie zu mokieren. Das Pedigree eines Menschen war nicht nachweisbar wie das eines Hundes oder eines Pferdes; denn da konnte man nicht mit der gleichen Sicherheit nachprüfen, wer wen gedeckt hatte, und daß man bei der Feststellung des Vaters in neunhundertneunundneunzig Fällen von tausend auf die Aussage der Mutter angewiesen ist, das hatte schon mit schöner Naivität Homer seine edelsten Helden erklären lassen, wenn sie von ihren Vätern berichteten. Aber jetzt benahm ihm eine ungeheure Wut die Vernunft. Es war ganz gleich, ob mit Recht oder nicht: er war bemakelt; Millionen Menschen, ein ganzes Volk, hielten ihn nicht für voll. Die Grundlagen des geltungsbedürftigen jungen Menschen stürzten ein.
    Seitdem er heute morgen den Artikel gelesen, hatte sein atavistisch sinnloses Ehrgefühl jedes Maß verloren. Er fühlte sich bis in den Boden hinein erniedrigt, Stürme von Demütigung schüttelten ihn, fegten die Reste seiner Vernunft fort. Nicht gegen seinen vermoderten Urgroßvater Reinach richtete sich sein Zorn, nicht gegen seine Mutter, nicht gegen dieNazi, nicht gegen die Schmierfinken von den »P. N.«, sondern gegen Wiesener.
    Wenn er sich das Gesicht Klaus Federsens vorstellte, tanzten ihm Funken vor den Augen. War es Klaus gewesen, der ihm den Artikel übersandt hatte? Es war mehr als unwahrscheinlich, daß einer seiner Kameraden den Artikel gelesen, dennoch hatte er das Gefühl gehabt, alle wüßten darum. Sein Vormittag war ein Spießrutenlaufen gewesen. Und an alledem war er schuld, Wiesener. Was ist er eigentlich, dieser Monsieur Wiesener? Wenn er wirklich ein Nazi ist, wie konnte er sich dann mit der Halbjüdin einlassen, mit der Tochter der geborenen Reinach? Wie konnte er ihm diese Frau zur Mutter geben? Wer hat ihm erlaubt, ihm, Raoul, sein Leben zu versauen? Ja, Raoul hat alle Logik und Selbstbeherrschung verloren. Er sagte sich nicht, daß es damals, als er gezeugt wurde, die Begriffe »Arier« und »Nichtarier« nicht gab, außer in ein paar armen, kranken Hirnen, denen die Gabe sauberer Definition versagt war. Er will einfach diesen Vater nicht. Er spuckt ihm ins Gesicht, dem Boche, der sich als Franzose aufspielt, dem Komödianten, der weder das eine ist noch das andere, weder Boche noch Franzose, diesem Typ, der nichts weiter gekonnt hat, als ihm sein Leben zu versauen. C’est cela, denkt er, ma vie est ratée, und fast gleichzeitig denkt er es nochmals, derb und deutsch: Er hat mir mein Leben versaut.
    Wiesener beschaut seinen Sohn. Die ganze Anmut des Jungen ist fort, er ist keine Augenweide mehr, Wiesener kann nicht mehr stolz auf ihn sein. Raoul ist ein armer, gehetzter Junge. Das Erlebnis von heut hat ihn völlig aus dem Gleis

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