Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
geworfen, es hat ihm alle Schminke abgerissen, und was dahinter zum Vorschein kommt, ist nicht lieblich. Der Junge sprudelt deutsch und französisch durcheinander heraus; der leise Akzent, der seinem Deutsch sonst soviel Reiz gibt, macht es jetzt häßlich, gemein. Seine tiefe Stimme klingt spröd. Ja, so hat Leas Stimme am Telefon geklungen. Und auch die große, knochige Nase, die der Junge von Lea hat und die sonst seinGesicht davor bewahrt, allzu zierlich und anmutig zu wirken, jetzt in der Erregung entstellt sie ihn bloß. Haben wir Nazi doch recht, wenn wir behaupten, daß sich bei Blutmischung nur die schlechten Eigenschaften beider Eltern vererben?
In Wieseners Haltung und Gesicht spiegelt sich nichts von diesen Gedanken. Das Kinn vorgeschoben, die Lippen verpreßt, stark, männlich, steht er vor dem Aufgelösten, Rasenden, Sinnlosen. Er schaut ihn nur an, und schon seine Ruhe macht ihn dem Knaben überlegen.
Diese Überlegenheit reizt Raoul noch mehr. »Das mindeste, was ich von Ihnen verlange«, bricht er aus, »ist, daß Sie mich rehabilitieren. Jetzt erst recht muß die Jugendtagung zustande kommen, und ich muß die Delegation der ›Jeanne d’Arc‹ führen. Soviel wenigstens müssen Sie fertigbringen.« Er spricht heftig, verworren, aber man kann das Dringliche, Flehentliche seiner Bitte nicht überhören.
Wiesener überhört es nicht. Aber ihn empört, daß der Junge so stupid ist, gerade jetzt, nach dem Artikel der »P. N.«, ein solches Begehren zu stellen. Ihm selber steht das Wasser bis zum Hals, das muß Raoul wissen, und da kommt er ihm mit seinem frechen, egoistischen, undurchführbaren Vorschlag.
Wiesener bückt sich, hebt die zur Erde geflatterten Scheine auf, faltet sie sorgfältig, nimmt die andern, zählt sie durch. »Achthundert«, konstatiert er, ein kleiner, dummer, bösartiger Hohn ist in seiner Stimme. Er steckt das Geld ein. »Was wollen Sie übrigens, Monsieur de Chassefierre?« fährt er mit dem gleichen, törichten Hohn fort; später wird er nicht mehr begreifen, warum er so spricht. »Ist es wegen dieses anonymen Gewäsches in dem Emigrantenblättchen? Was geht Sie das Ganze an? Worüber regen Sie sich auf? Wo steht geschrieben, Monsieur de Chassefierre, und wer sagt Ihnen, daß ich Ihr Vater bin?« Was er da redet, ist der reine Blödsinn. Es unterliegt nicht dem leisesten Zweifel, daß er Raouls Vater ist, die Ähnlichkeit allein beweist es. Er sieht die Augen des Jungen und ist sich bewußt, daß jetzt er selber genau diegleichen Augen hat. Und auch wenn er nicht sein Vater wäre, was wäre dann anders? Warum sollte es den Jungen nichts angehen, wenn seine Mutter geschmäht wird, seinetwegen, Wieseners wegen? Warum soll er darüber nicht in Raserei geraten? Was Wiesener da vorbringt, ist einfach verrückt, das weiß er, schon bevor er es sagt; er weiß auch, daß er den Jungen mit diesen Worten für immer von sich forttreibt. Und dennoch sagt er’s.
Raoul steht vor ihm. Das Gefühl, daß der andere ihn klein und verächtlich machen will, dringt ihm in Herz und Nieren, füllt ihn an mit einem heißen, unvernünftigen Zorn wie nie in seinem Leben. Was heißt das, was der Mann da redet? Es ist eine neue Beschimpfung seiner Mutter. Dort drüben hängt ihr Porträt. Raoul, obwohl er nicht zu dem Bild aufschaut, sieht es deutlich. In diesem Augenblick ist ihm mehr als je bewußt, welche Rolle die Mutter im Leben des Mannes gespielt hat. Wie schlecht und dumm ist der Mann, daß er sie jetzt auf so schamlose Weise verleugnet. Ein maßloser Zorn füllt Raoul bis zum Rand. Was überhaupt will denn dieser Mensch Wiesener? Wenn er nicht sein Vater ist – er ist es leider doch –, dann war es eine doppelt ungeheure Frechheit, ihn all die Jahre hindurch die Rolle seines Sohnes spielen zu lassen. Und plötzlich, grün vor Wut, mit versagender Stimme, wirft er Wiesener ins Gesicht: »Was? Feig sind Sie auch noch? Drücken wollen Sie sich auch noch? Boche, sale Boche.«
Wiesener sollte vernünftiger sein. Vergeblich wird er sich später, vor der Historia Arcana, fragen, wo denn seine ganze so oft erprobte Psychologie, wo seine Logik geblieben ist. Wie kommt es, daß er nicht die maßlose Erregung des Jungen bedenkt? Er hat Fremden unverzeihliche Schwächen verziehen: wie kommt es, daß er seinem Sohn die höchst verzeihliche Wallung nicht verzeiht? Vielleicht geschah es nur deshalb, weil Marias Tippen, das bisher ganz leise aus dem dritten Zimmer durch die Glastür gekommen war,
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