Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
plötzlich aufgehört hatte; vielleicht auch geschah es deshalb, weil ersich von dem sonst so beherrschten Raoul eines solchen Ausbruchs nicht versehen hatte. Sei dem wie immer, Erich Wiesener, der höchst kultivierte, raffinierte, mit allen Ölen der Bildung und des Intellekts gesalbte Wiesener, handelte nicht anders, als jeder Bauer, Kleinbürger, Unteroffizier gehandelt hätte. Er hob die Hand und gab Raoul eine Maulschelle rechts und eine links.
Raoul schwankte ein bißchen, aber er rührte kein Glied. Er gab auch keinen Laut von sich. Von drüben, sehr leise, kam plötzlich wieder das dumpfe, eilige Geräusch der Schreibmaschine. Raoul stand da, seine Wangen röteten sich, deutlich zeigten sich die Spuren der Hand. Dann, schwerfällig, machte er kehrt und verließ das Zimmer.
Wiesener folgte ihm mit den Augen. Nicht, daß der Junge so dagestanden war, leise schwankend und mit starren Gliedern, hatte ihn bewegt, auch nicht die Spuren der eigenen Hand, die geschlagen hatte. Aber wie der Junge ging, als er das Zimmer verließ, mit unsichern Knien und schlaffem Rücken, daß er, noch nicht neunzehn und sonst so straff, auf einmal so müden, alten Schrittes ging, das machte Wiesener traurig. Wie die Luft aus einem angestochenen Schlauch entwich mit einemmal seine ganze Wut. Um ein Haar wäre er dem Jungen nachgelaufen und hätte ihn zurückgeholt.
Er hockte nieder. Jetzt erst, nachdem Raoul gegangen war, merkte er, welche Mühe es ihn gekostet hatte, nicht zu wüten, nicht zu schreien. Er atmete beschwerlich, er spürte sein Herz. Nach einer Weile dann stand er auf, schmerzhaft schnaufend, öffnete das Fenster, sog die Aprilluft ein; sie war feucht und warm, frischer wäre sie ihm lieber gewesen, dennoch lehnte er sich lange aus dem Fenster. Dann ging er zurück ins Innere des Raumes, machte kunstgerecht Armbewegungen, Atemübungen. Leas Bild schaute ihm zu, mit gelassenen, leise ironischen Augen.
Er straffte sich, ging ins Arbeitszimmer. »Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte Maria, sie sprach gepreßt, erregt.»Das weiß ich von alleine«, erwiderte er knurrig. »Jetzt erklären Sie nur noch, das hätten Sie gleich gesagt, daß dieser verfluchte Artikel mir Verdruß machen wird.« Maria schaute hoch, schaute ihn an, beherrschte sich. »Soll ich lieber gehen?« fragte sie, unbeleidigt, freundschaftlich besorgt. »Wollen Sie allein sein? Oder vielleicht«, riet sie mit mütterlich sanfter Energie, »laufen Sie noch eine Stunde durch die Straßen. Aber höchstens eine Stunde. Länger können Sie den Anruf bei Heydebregg nicht hinauszögern.« – »Nein«, erwiderte er, »bleiben Sie, Maria, und auch ich werde bleiben. Es ist mir lieber, wenn Sie da sind.« Maria spürte Genugtuung und Bitterkeit: wenn es ihm schlecht ging, hielt er sich an sie.
Müßig saß er an seinem gewaltigen Schreibtisch, trüb. Die Sache mit Raoul war kaum mehr einzurenken. Der Junge hatte von Lea die Sensibilität, von ihm selber den Ehrgeiz und die Eitelkeit, er war sicher auf den Tod gekränkt. Was hatte er da für eine unerhörte Eselei begangen. Hatte er denn einen solchen Überfluß an Menschen, daß er sich’s leisten konnte, den Jungen von sich fortzutreiben? »Freunde und Freundinnen« hatte er zahllose, aber wenn er genau zusah, blieb ihm niemand außer Lea und Maria.
In seinem Inneren war immer eine leise Ahnung gewesen, als ob er einmal werde wählen müssen zwischen seiner Freundschaft mit Lea und seiner Stellung in der Partei. Jetzt sah es aus, als sei beides hinüber, seine Freundschaft und seine Karriere. Leas gepreßte Stimme am Telefon, ihre Verstörtheit, ihre Stummheit, »sprechen Sie noch?«, ach, nur er spricht. Nein, dagegen kam er nicht auf. Und Heydebregg, hatte der ein einziges Wort gesagt, das ihn zu Hoffnungen berechtigt hätte? Er hat sich was vorgemacht in seinem ruchlos leichtfertigen Optimismus. Er ist bei Heydebregg genauso gestrichen wie bei Lea. Es ist alles auf einmal eingestürzt, Lea und seine Karriere.
Das Emigrantenpack. Die Schmöcke. Wie hat er auf die Leute hinuntergeschaut. Er im Rolls Royce und sie in der Pferdedroschke. Sie haben ihn kaputtgemacht. Sie brauchtennur zu wollen, und da lag er, im Dreck, kaputt. Das Lamm des Armen. Ein sonderbares Lamm. Lea ist an allem schuld. Wäre sie nicht, er hätte längst zugepackt und sich dieses »Lamm« gelangt. Eine maßlose Wut faßte ihn, ein Zorn, wie er ihn nie gekannt, gegen die Heilbrun und Trautwein. Er war so verflucht anständig zu
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