Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
daß er ablehnt, gibt ihm das Gefühl, ein Standhafter zu sein, ein Aufrechter, der sich guten Gewissens durch allerlei kleine Genüsse fürden saftigen Brocken schadlos halten darf, den er sich, aus Ethos, entgehen läßt.
Er zieht die Beine hoch. Da liegt er, wie ein Embryo im Mutterschoß. »Gute Nacht«, wünscht er sich und schläft ein, jenes weise, resignierte, selbstkennerische, verschönende Lächeln um die Lippen. Der Zug schaukelt ihn, er schläft sanft und tief, ein wenig schnarcht er. So also fährt er dahin, durch die Nacht, der Südostgrenze zu, der vermeintlichen Sicherheit entgegen, in sein Schicksal.
4
Eine verirrte Bürgerstochter
Ilse Benjamin, nachdem sie ihrem Manne die gebührend lange Zeit nachgewinkt, verließ das Bahnhofsgebäude, die vielen anerkennenden Blicke genießend, die ihr, der gutaussehenden Frau, folgten. Vor dem Bahnhof bedauerte sie, wie stets, daß sie keinen Wagen mehr hatte; ein klein wenig Freude aber war in dieses Bedauern gemischt, weil sie jetzt nämlich dem Taxichauffeur die Sorge überlassen konnte, über den glitschigen Asphalt zu steuern.
In ihrem Zimmer in dem kleinen, netten Hotel Atlantic angelangt, fand sie die Abendpost vor, darunter drei dringliche, etwas freche Briefe von Männern, mit denen sie flirtete. Sie legte sich auf die Couch, rauchte. Sie hatte die Absicht, den Abend mit Janosch zu verbringen. Aber sie hatte ihm das trotz seines Drängens noch nicht zugesagt, sondern ihm lediglich in Aussicht gestellt, sie werde ihn anrufen, falls sie doch noch die Laune ankommen sollte, ihn zu treffen; es schien ihr taktisch richtiger, sich kostbar zu machen. Es trug aber Janosch, ein Attaché der ungarischen Gesandtschaft, ein ungewöhnlich hübscher Bengel, einen schwer aussprechbaren Aristokratennamen und hieß keineswegs Janosch; sie indes, halb ihm zur Freude, halb ihm zu Leide, rief ihn nur bei diesem Namen.Jetzt war die Zeit, für die sie ihm ihren Anruf versprochen hatte, um beinah eine Stunde überschritten, jetzt also konnte sie telefonieren. Mit ihrer hohen Stimme, die Worte dehnend, unter viel Gelächter, teilte sie ihm mit, sie habe noch keinen Entschluß gefaßt, erst nach ihrem abendlichen Bad könne sie endgültig feststellen, welcher Laune sie sei. Sie hörte sich seine frechen, feurigen Schmeicheleien an, sich rekelnd, angenehm überrieselt. Dann, während sie das Bad einlaufen ließ, telefonierte sie mit ihrer Freundin Edith, machte sich lustig über Fritzchen, ihren Mann, bedauerte, daß er nicht da war, freute sich darüber, überlegte mit Edith, ob sie mit Janosch schlafen solle, und wenn, ob schon heute. Taktische Gründe sachgemäßen Flirts sprachen dafür, das Vergnügen hinauszuschieben. Andernteils sollte die Geschichte nicht länger dauern als bis Montag; denn es wäre Fritzchen gegenüber unfair, wenn sie es auch während seiner Anwesenheit mit einem Faschisten triebe. Sie und Edith erwogen ernsthaft und von taktischen und moralischen Gesichtspunkten aus die Für und Wider der Angelegenheit so lange, bis Ilse erklärte, jetzt sei ihr Bad schon zum zweitenmal kalt geworden.
Sie aß mit Janosch in einem kleinen Lokal in Neuilly, das gerade Mode geworden war, teils wegen seiner Vorspeisen, teils wegen eines Spezialgerichts, Hahnenkämme und Hahnennieren. Die Vorspeisen waren wirklich reizvoller als sonst zusammengestellt und die Hahnenkämme und Nieren sehr gut zubereitet. Allein es gab nur wenig Zungen, die diese Besonderheit hätten herausschmecken können, die des Attachés und Ilses gehörten wahrscheinlich nicht dazu, auch saß man ziemlich unbehaglich und eng aufeinander. Die Preise indes, die verlangt wurden, waren unerhört hoch, und man fühlte sich vornehm, daß man schon jetzt in diesem Restaurant saß, dessen Ruf erst seit vierzehn Tagen unter den Kennern umging. Hernach fuhr man in ein Café an den Champs-Élysées, wo man sicher sein konnte, nach der heutigen Premiere eine Reihe von Bekannten zu finden. Ilse Benjamin wurde hier oft und freundlich gegrüßt, doch gab es unter den Gästen auch Intellektuellein weniger günstigen Umständen, die es verdroß, daß, während ringsum so viele Emigranten elend verkamen, Friedrich Benjamins Frau lachend, flirtend und in solchem Aufwand dasaß.
Von diesem Café aus ging man in ein Kabarett, dann in ein Montmartre-Lokal, und ganz spät, als es schon Tag wurde, sah man Janosch und Ilse in einer Chauffeur-Destille. In dem Montmartre-Lokal, gerade weil Janosch sehr gut tanzte, hatte
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