Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
für das beste, die Schmöcke von den »P. N.« einfach totzutreten, ohne viel Raffinement. Was liege schon daran, wenn man hinterher wegen einer solchen gewalttätigen Aktion durch den Kakao gezogen werde. Die Partei habe oft die Erfahrung machen können, daß sich die Öffentlichkeit, wenn sie erst lang genug lamentiert habe, zuletzt doch mit jedem Faktum abfinde. Die Welt sei nun einmal masochistisch, sie liebe es geradezu, sich vor unangenehmen Tatsachen zu sehen, wenn die nur erst vollzogen seien. Ungemütlich werde sie nur dann, wenn man die Ausführung einer peinlichen Operation zu lange hinauszögere.
Der Parteigenosse hörte aufmerksam zu: Aber: »Es ist mir interessant«, war alles, was er entgegnete, »daß Ihre Meinung sich nicht geändert hat, lieber von Gehrke«, und Spitzi konnte aus dieser Antwort Heydebreggs so wenig herauslesen wie aus seinen stumpfen, weißlichen Augen.
Als Spitzi von Heydebregg wegging, ärgerte er sich, daß er den Versuch gemacht hatte, das Nilpferd zurückzugewinnen. Wo ist sein schöner Fatalismus von früher hingeraten, sein selbstzufriedenes Phlegma? Er war grämlich geworden. Die Vergnügungen der Stadt Paris machten ihm keinen Spaß mehr, er selber machte sich keinen Spaß mehr, sein Äußeres nicht und sein Inneres nicht, seine Zähne nicht, seine Vornehmheit nicht, seine Karriere nicht und nicht seine Sicherheit in der Eroberung von Frauen. Wurde man alt?
In eine solche Stimmung hinein wurde ihm Raoul de Chassefierre gemeldet. Wenn ihm der Junge schon bei jenem Fest Madame de Chassefierres gefallen hatte, so war er ihm, wie ihm heute zumute war, doppelt willkommen. Er brauchte einen jungen Menschen, um sich selber ein bißchen Jugend zu holen.
Raoul kam voll von Hoffnungen und Wünschen. Jetzt mehr als je brannte er darauf, seine deutsch-französische Jugendbewegung zustande zu bringen, gegen Wieseners Willen.Er wollte ihm beweisen, wer er sei, er wollte ihn kränken. Vielleicht konnten die Herren von Gehrke und Heydebregg ihm helfen, sein Projekt durchzusetzen.
Raoul war zu dem Schluß gekommen, daß die Bedenken, die Wiesener gegen ihn und sein Jugendtreffen hatte, aus übertriebener Angst um seine Karriere stammten. Der Praxis der nationalsozialistischen Richter und Verwaltungsstellen zufolge war schon seine Mutter keine rechte Jüdin mehr, sondern ein »Mischling«, und gegen ihn selber lag überhaupt nichts vor. Es waren keine stichhaltigen Gründe, die Wiesener so ängstlich und tipftelig machten, es war nichts als übersteigerter Arrivismus. Herr von Gehrke oder Herr Heydebregg, des war Raoul gewiß, werden an seinem jüdischen Urgroßvater keinen Anstoß nehmen.
Spitzi begrüßte ihn denn auch sichtlich erfreut, Raoul fühlte sich ihm bald vertraut und gab sich ungehemmt, wie seit langem nicht mehr. Er gewann seine alte Jungenshaftigkeit zurück, jenes Gemisch aus Altklugheit und knabenhafter Kühnheit, mit dem er so oft Erfolge erzielte. Herr von Gehrke behandelte ihn als Gleicher den Gleichen. Er zeigte ihm seine Wohnung, lud ihn dringlich ein, häufiger zu kommen, man lachte zusammen, tauschte Erfahrungen aus, die man mit Frauen gemacht hatte, gesellschaftlichen Klatsch.
Spitzi, während er so, angeregt, mit Raoul schwatzte, hatte immer wieder das Gefühl, er müsse dem Jungen doch schon früher begegnet sein. Das kannte er doch, das hatte er doch schon oft gesehen, wie der Junge hin und her ging, männlich und schlenkerig zugleich, wie er sich setzte, wie er aufsprang, wie er ein Bein übers andere schlug. Natürlich, da war manches, vieles, was Spitzi an Madame de Chassefierre wahrgenommen und was Raoul überkommen hatte. Aber da war doch noch ein anderer, an den ihn der Junge erinnerte. Donnerwetter. Par exemple. Daß er das nicht schon das erstemal gesehen hat. Dieser Urenkel des prominenten Juden David Reinach, der, das ist mit Händen zu greifen, ist der Sohn des prominenten Parteigenossen Wiesener.
Daß zwischen Wiesener und Madame de Chassefierre eine Liaison gewesen war, hatte Herr von Gehrke niemals bezweifelt. Zwar hatten beide diese ihre Beziehung nicht etwa herausfordernd an die große Glocke gehängt, verheimlicht aber hatten sie sie auch nicht, sie hatten von ihrer Freundschaft mit souveräner Selbstverständlichkeit gesprochen. Auch daß Wiesener Leas Porträt in seiner Bibliothek hängen hatte, war etwas Ungewöhnliches und bewies, daß die beiden, obwohl sie es nicht darauf anlegten, die Gesellschaft herauszufordern, sich nichts
Weitere Kostenlose Bücher