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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sich der Mutter zu eröffnen. Nicht nur weil er sich aussprechen wollte, sondern auch, um Wiesener, vielleicht, zu schaden. Wiesener liebte die Mutter, das war klar. Sonst hätte der ehrgeizige Mann nicht seine Karriere gefährdet, indem er seine Besuche in der Rue de la Ferme auch nach dem schweinischen Artikel fortsetzte. Es wäre eine großartige Rache, wenn er, Raoul, die Mutter dahin bringen könnte, mit Wiesener zu brechen. Allein er fürchtete, er werde das nicht erreichen und durch eine vergebene Bitte höchstens seine Beziehungen zur Mutter verschlechtern.
    Dies alles war in ihm, während Emile die Teller wechselte. Endlich war der Diener draußen. »Ja«, sagte Raoul, »ich habe etwas gegen Monsieur Wiesener. Ich habe eine Aussprache mit ihm gehabt, wegen dieses albernen Artikels in der Emigrantenzeitung.« In ihm war die Erinnerung an die Wiesener zugeschleuderten Geldscheine, an Wieseners schändliches Gerede, an die Ohrfeige. Der sonst so beherrschte Junge stocherte nervös mit der Gabel am Tischtuch. »Monsieur Wiesener«, berichtete er und schaute die Mutter nicht an, »meinteunter anderm: ›Wo steht geschrieben und wer sagt Ihnen, daß ich Ihr Vater bin?‹ Er sah schräg hoch, mit flüchtigem Blick, die Mutter war erblaßt, er spürte gleichzeitig Schrecken und Freude. Schnell, weltmännisch über das Unangenehme weggleitend, fügte er hinzu: »Es war ziemlich peinlich. Darum habe ich die ganze Zeit nicht davon gesprochen, und ich bereue auch, daß ich es dir jetzt erzähle. Es ist eine Sache, welche Männer untereinander abzumachen haben.«
    Leas sonst so ruhige Stimme klang gepreßt, als sie erwiderte: »Es muß ein Mißverständnis gewesen sein, du mußt Erich mißverstanden haben.« Es fiel Raoul auf, daß sie Erich sagte: sonst pflegt sie den Herrn Monsieur Wiesener zu nennen, oder, in seltenen Fällen, Papa. Sie war erregt, das sah man. Er hatte recht daran getan, es ihr zu sagen; ihr aber mehr zu erzählen, ihr von seinem eigenen Schimpf zu erzählen, das brachte er einfach nicht über sich. »Ja«, erwiderte er nur, und es gelang ihm, nett und höflich zu sein, »lassen wir es dabei, es war ein Mißverständnis. Immerhin begreifst du, Liebling, daß ich es vorziehe, mit Monsieur Wiesener nicht zu Mittag zu essen.«
    Als Lea später allein im verdunkelten Zimmer auf ihrem Bett lag, fand sie sich nicht zurecht. Was ist Erich da angeflogen? Warum hat er Raoul das gesagt? Hat sich der Unsinn der Nazitheorien doch tiefer in ihn gesenkt? Manchmal kann auch ein gescheiter Mann nicht gegen solche Atavismen an, wenn er den ganzen Tag damit zu tun hat.
    Ach, wie kompliziert und schwierig ist diese Welt und diese Gesellschaft. Und wie einfach wäre es, wenn ihr Großvater kein Jude gewesen wäre. Sie erschrak fast vor Scham, als ihr bewußt wurde, was sie da dachte. Hat der Irrsinn sie selber angesteckt? Sie hatte es immer gehaßt, in sich hineinzuspähen und ihr Inneres zu beschnüffeln. Sie war einverstanden mit sich und war dankbar, daß sie war, wie sie war. Was für eine schändliche Feigheit war sie da angekommen, daß sie auf einmal ihre Herkunft und ihr Wesen los sein wollte.
    Pfui, pfui, pfui. Und wie ist das mit Erich? Raoul hatte ihn natürlich nicht mißverstanden, Erich hatte die verrückte Behauptung wirklich getan. Aber was wollte er damit? Hielt er es für eine Schande? Wagte er, es für eine Schande zu halten, daß er einen Sohn hatte mit einem Tropfen jüdischen Blutes?
    Sie kann das nicht schweigend hinunterschlucken. Das nicht. Es ist ein bißchen viel über sie gekommen an diesem einen Tag: die dunkle Äußerung Heydebreggs, die dunkle Äußerung Erichs zu Raoul. Sie wird nicht fertig mit dem allen, allein. Sie kann sich nicht länger vor einer Auseinandersetzung drücken. Sie haßt Szenen, sie hat Angst vor Szenen, aber sie kann es nicht länger hinausschieben, Erich zu stellen.
    Wie es dann soweit ist, benimmt sie sich ungewöhnlich ungeschickt. Sie setzt gleich mit einem falschen Ton ein, mit einem flauen, verzerrten Scherz. Ihre Galerie zeitgenössischer deutscher Meister, meint sie, werde wohl bald wieder Zuwachs bekommen. Wiesener sieht sie verständnislos an. Er weiß natürlich sofort, worum es geht, und daß sie Heydebreggs Äußerung also dennoch gehört und leider richtig interpretiert hat. Aber es war von jeher seine Stärke, den Naiven zu spielen. Sie muß also weitersprechen, und, ziemlich hilflos, wiederholt sie die fatalen Fragen: »Was Neues aus Afrika?« und:

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