Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Innern. Dachte an Harry Meisel, der trotz seiner Kraft und Begabung zugrunde gegangen war, weil er es nicht über sich hatte bringen können, sich einem Ganzen anzuschließen. Die Eins ist nichts ohne die Nullen, die Nullen sind nichts ohne die Eins. Schade, daß Sepp aus dem Schicksal Harry Meisels nicht die logische Folgerung zieht, die nämlich, daß ohne Solidarität kein Erfolg möglich ist, daß private Aktionen aussichtslos bleiben müssen.
Vater Merkle liebte Hanns und bemühte sich, ihn sacht in seinem Geist zu erziehen. Er trachtete, Hanns spüren zu machen, daß seine kommunistische Lehre trotz ihres harten Realismus nicht nüchtern war. Es gibt nichts »Romantischeres« als die Realität, und wie das klare Wasser schillert, wenn die Sonne darauf scheint, so wird die Realität farbig, wenn man sie mit dem rechten Auge beschaut. Der Buchbinder Merkle brachte Hanns zum Beispiel gelegentlich mit Parteigenossen zusammen, die im Dritten Reich illegale Arbeit verrichteten. Obwohl diese Illegalen ununterbrochen ihr Leben auf Spiel setzten, war ihre Arbeit weder kleidsam noch heroisch, sie war monoton, und was zu erreichen war, stand scheinbar in keinem rechten Verhältnis zu der ungeheuern Gefahr. Aber das mühevolle, langweilige und gefährliche Geschäft, ein winzigesSteinchen herbeizuschleppen, gewann Glanz aus der gewaltigen Größe des Baus, für den das winzige Steinchen bestimmt war. Dies war das Wunderbare, das Romantische an der scheinbar so banalen Arbeit, daß die Null das Bewußtsein der Bedeutung erlangte, weil sie der vorgesetzten Eins diente.
Selbstverständlich hütete sich der Buchbinder Merkle, Hanns mit solchen ideologischen Betrachtungen zu kommen, und die Illegalen, mit denen er ihn zusammenbrachte, vermieden ihrer ganzen Art nach große Worte. Sie sprachen überhaupt nicht viel, ihre Rede und ihr Gehabe waren alltäglich. Aber Hanns stieß von allein auf das, worauf er stoßen sollte: darauf nämlich, daß diese Männer mit gewöhnlichen Gesten und Worten an der Verrichtung ungewöhnlicher Dinge mithalfen und nicht, wie die meisten andern, von denen man viel hermachte, unter einem Aufgebot romantischer Worte und Gesten banale Handlungen vollbrachten.
Trotz seiner Gesetztheit träumte Hanns phantastische Jungensträume wie nur einer. Er erging sich etwa in Phantasien über die Wolga-Republik. Es schwebte ihm vor, das Beste der deutschen Kultur in dieses autonome Land der Sowjetunion zu retten und aus der Hauptstadt der Wolga-Republik, der Siedlung Engels, ein Sowjet-Weimar zu machen. Warum sollte das nicht glücken, da die Besten der deutschen Intellektuellen und Künstler aus dem Dritten Reich vertrieben und über die Welt verstreut waren? Vater Merkle hörte sich solche Träumereien mit innerem Lächeln an. Er wußte, daß es darum ging, die Agrarwirtschaft der Wolga-Republik zu rationalisieren und aus der Siedlung Engels ein tüchtig und vernünftig verwaltetes Zentrum für Agrarprodukte zu machen, kein Jena oder Weimar. Aber es freute ihn, daß Hanns kein nüchterner Rationalist geworden war.
Hanns verbrachte immer mehr Zeit in den Jugendverbänden der Emigranten. Er nahm teil an ihren Abenden und bemühte sich, den Mitgliedern dieser Vereinigungen die Idee der Volksfront schmackhaft zu machen. Die jungen Emigranten hattenein trübes Leben, ihre Zukunft war dunkel, und was sie ringsum von den Erwachsenen zu hören bekamen, war bitteres, nissiges, hysterisches Geschwätz. Um so mehr sagte ihnen Hannsens gesetzte, klare Art zu und seine sachliche, praktische Rede; er gewann Freunde und Kameraden.
Einer vor allem schloß sich ihm an, Klemens Pirckmaier, ein hochaufgeschossener, dürrer Junge mit hagerem Gesicht und fliehendem Kinn, mit schütterm Haar und mit etwas törichten Augen, die groß und blau strahlten. Sein Vater, ein Führer der Katholikenpartei, war von den Nazi ermordet worden. Freunde des Vaters hatten den Jungen in Paris untergebracht und für ihn weiter gesorgt. Klemens Pirckmaier war von sanftem Wesen, langsam von Auffassung, aber guten Willens und fleißig. Durch den Tod des Vaters, den er sehr geliebt hatte, war er ein wenig tiefsinnig geworden. Seine Lehrer fanden ihn gefügig, doch schüchtern und schwerfällig; ihn unter Menschen zu bringen hielt nicht leicht. Wer Klemens Pirckmaier kannte, wunderte sich, daß der scheue Junge es über sich gebracht hatte, bei einem Diskussionsabend des katholischen Jugendvereins an Hanns heranzutreten und ihm stotternd und
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