Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
respektvoll eine Frage zu stellen.
Von diesem ersten Abend an suchte der Junge gierig Hannsens Nähe. Viele brachten Hanns Vertrauen entgegen, ohne daß er sich groß darum hätte anstrengen müssen, aber niemand warf sich ihm so an wie Klemens Pirckmaier. Vor ihm, und nur vor ihm, sprudelte Klemens alles heraus, was sich in ihm gestaut hatte. Gedanken, Wünsche, Gefühle, ungelenk durcheinander, und er bestürmte ihn mit tausend Fragen.
Klemens Pirckmaiers gläubiges Christentum war durch die Ermordung des Vaters und durch die Christenverfolgung des Dritten Reichs nicht erschüttert worden. Was ihn bedrängte war, daß so viele berufene Katholiken die Aufgabe, die Gott ihnen stellte, entweder geradezu verrieten oder sich zumindest vor ihr drückten. Denn da die Wechsler von neuem in den Tempel gedrungen waren und ihn angefüllt hatten, war es heute vornehmste Pflicht der Katholiken, sie auszutreiben.Heute war die streitende Kirche die allein gültige Repräsentantin des Christentums; es galt, dem Christus anzuhangen, der gekommen war, das Schwert zu bringen. Aber die Männer, denen es oblag, diese Mission zu erfüllen, versagten zu einem großen Teil. Klemens flüchtete sich in eine stumme, grimmige Verzweiflung. Die Welt war verrottet, das Zeitalter des Antichrist angebrochen. Nicht nur ein Menetekel stand an den Wänden, es gab keine Wand mehr, auf der man noch eine Inschrift hätte anbringen können vor lauter Menetekels. Trotzdem änderte sich nichts. Blindheit, vertierte Blödheit war überall, von allen Seiten grinste einem Satan entgegen.
Da dem so war, hatte Klemens Pirckmaier eine einzige Bitte an den Himmel: ihn möglichst bald aus dieser verderbten Welt fortzunehmen. Er hätte selber Schluß mit sich gemacht, hätte nicht Gott eine solche Tat verboten. Aber sein Wunsch, von dieser Erde wegzugehen, war so heiß, rein und innig, daß er gewiß war, Gott werde ihn erhören. In solcher Stimmung, sicher, daß sein leiblicher Untergang bevorstehe, war er Hanns Trautwein begegnet, und Hannsens Tatkraft hatte einen Plan in ihm reifen lassen, der verwoben war mit seinem Wunsch. Die Idee der »Verwertung«, die Hanns so gern im Munde führte, zeugte in Klemens weiter. Er wollte seinen Untergang, dessen er gewiß war, »verwerten«, wollte ihn verknüpfen mit einer großen, frommen Tat, mit der Vertilgung des Antichrist.
Hanns, als ihm Klemens von seinen verworrenen Träumen erzählte, wurde nicht klug daraus. Nur mit Mühe erkannte er, worauf der andere hinauswollte, daß er nämlich den Gegner, den Antichrist, mit in den vorbestimmten Tod nehmen, daß er ein Attentat auf den »Führer« ausüben wollte.
Hanns sah sogleich, daß das weder wünschenswert noch ausführbar war. Doch er traute sich nicht zu, allein gegen Klemens’ wirren Fanatismus aufzukommen. Er trug den Fall Vater Merkle vor. Der Buchbinder zuckte die Achseln und meinte, er sei kein Psychiater. Erst nach langem Drängen erklärte er sich bereit, mit Klemens Pirckmaier zu reden.
Man berichtete dem Alten von dem Attentatsplan als von dem Vorhaben eines Dritten, eines gemeinsamen Freundes. Vater Merkle, mit einer Geduld, die Hanns überraschte, setzte dem störrischen Klemens auseinander, wie schädlich ein solches Unterfangen sei. »Ich bin Kommunist, junger Herr«, erklärte er in seinem festen, biederen Elsässisch. »Sie wissen, daß wir prinzipielle Gegner des Individualterrors sind, nicht aus irgendwelchen Moralgründen, sondern deshalb, weil wir aus der Geschichte gelernt haben, daß Individualterror in diesem Stadium des Klassenkampfes schädlich ist. Das ist keine abstrakte Ideologie, das ist kein bloßes Gerede, so halten wir es in unserer Praxis, junger Herr. Es ist Ihnen bestimmt nicht unbekannt, daß wir in Deutschland über Zehntausende von Genossen verfügen, die ihr Leben riskieren, auch wenn es sich nur darum handelt, Flugblätter zu verteilen. Ich brauche Ihnen also nicht erst zu sagen, daß sie es auch aufs Spiel setzten, um irgendein Attentat auszuführen, wenn man das für wünschenswert hielte. Wir halten aber eben solche Attentate nicht für wünschenswert. Daß Hitler und die übrigen Nazibonzen trotz des ungeheuren Hasses, der sich gegen sie angesammelt hat, noch am Leben sind, das verdanken sie nicht der Staatspolizei, das verdanken sie lediglich dem Schutz, den ihnen die kommunistische Partei angedeihen läßt. Die wären alle längst dahin, wenn wir nicht unablässig predigten: ›Rührt sie nicht an, ihr Leben ist
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