Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Kunstverstand, er hatte gerne mit ihr geschwatzt. Nie hätte sie in Deutschland daran gedacht, Romane zu schreiben und sie anzubieten wie sauer gewordene Milch.
Auf einmal fiel ihm ein, daß er in der letzten Zeit häufig an einer andern ein ganz ähnliches Gesicht gesehen hatte wie heute an dieser Erika Beermann, und mit Schreck erkannte er, daß diese andere seine Anna war. Ja, so müd und hoffnungslos fielen manchmal ihre Züge auseinander, und so schlaff bog sich manchmal ihr Rücken, wenn sie nach einem Tag voll von Mühe und kleinen Sorgen in die Küche hinausging, das Geschirr zu waschen.
Er machte sich von neuem an sein Manuskript. Aber die Gedanken liefen ihm davon. Heiß fiel ihm auf die Seele, wie gröblich er in der letzten Zeit Anna vernachlässigt hatte. Leicht hat sie es nicht mit ihm. Ihr obliegen tausend kleine, lästige Geschäfte, und er, statt ihr dankbar zu sein, daß sie ihm den Dreck abnimmt, ist grantig und gibt ihr mürrische Worte, als ob an den Unannehmlichkeiten des Exils sie die Schuld trüge.
Es hat keinen Sinn, darüber zu grübeln. Er wird sich jetzt, in Dreiteufelsnamen, endlich energisch an diesen Artikel über das Asylrecht machen, er klingt noch verdammt lahm, und ihm den rechten Schick geben. Doch es will und will nichts werden. Die klagende Stimme Erika Beermanns geht ihm nicht aus dem Ohr; es ist, als wäre sie leibhaft im Zimmer. Aber eigentlich ist es gar nicht Erika Beermann, es ist schon wieder Anna. Wie stolz sie auf ihn und seine Rede war bei dem Meeting, wie stolz sie auf »Die Perser« war, sie ist noch immer verliebt in ihn, noch heute, nach so langen Jahren, sounjung und verschlampt und ramponiert er ist. Ihm wird ganz warm, wie er sich das recht ins Bewußtsein ruft. Auf einmal stehen tausend Bilder ihrer gemeinsamen Vergangenheit auf, die ihm seit Jahren versunken waren. Er sieht Anna, wie sie damals am Flügel gestanden ist, gesammelt, nachdenklich, nachdem er ihr die Siebenunddreißigste Horaz-Ode vorgespielt hatte, und er hat noch genau ihre Sätze im Ohr, jedes Wort, jeden Tonfall, wie sie ihm dann ihre Einwände gesagt hat, vorsichtig, um ihn nicht zu kränken; aber er ist doch beleidigt gewesen, damals tief beleidigt, er war warm vom Schaffen gewesen. »Nunc est bibendum, nunc pede libero«, wie beschwingt das klang, wie es ihm geglückt war, das einzufangen und zu steigern, und da hat sie ihm kommen müssen mit ihren Bedenken. Spät erst hat er eingesehen, wie berechtigt ihre Bedenken waren. Es ist wirklich falsch gewesen, daß er damals den lateinischen Text genommen hat, und Anna hat das richtig gespürt. Auch hundertmal sonst hat sie das rechte Gefühl gehabt, wenn er, als der echte Münchner Dickschädel, der er ist, den falschen Weg grad erst recht hat weitergehen wollen. Mühe hat das gekostet, ihn davon abzubringen, und oft hat sie sich die Lippen fransig reden müssen.
Er träumt vor sich hin. Er versucht jetzt erst gar nicht mehr, sich zu seiner Arbeit zu zwingen. Das war während der Inflation, im Jahr 22 oder 23, damals ist es ihnen ganz dreckig gegangen, er war abgearbeitet und herunten, und es war nur gut, daß die Pointners den kleinen Hanns auf ein halbes Jahr in Pflege genommen hatten, sie selber hungerten erbärmlich. Damals hatte Anna vorgeschlagen, daß man sich Ferien gönne, auch ohne Geld, und sie hatten zu Fuß Ausflüge im Böhmerwald gemacht. Er sah vor sich den Morgen, nachdem sie im Freien übernachtet hatten, sie waren kalt und steif, aber dann ist die Sonne gekommen und sie sind im Gras gelegen, und Annas Bauch war gesprenkelt vom Schatten der Äste.
Nein, Anna ist schon die rechte, und er ist es, der in den letzten Wochen nicht so gewesen ist, wie er hätte sein sollen, er hat einiges an ihr gutzumachen.
Mit ihm fertig zu werden, das braucht Zeit und Geduld. Anna hat bewiesen, daß sie die Geduld hat. Und wenn sie die Zeit nicht hat, nicht mehr hat, dann ist es nicht ihre Schuld. Zum Vergnügen arbeitet sie nicht bei Wohlgemuth. Mit einemmal sieht er ganz deutlich, was eigentlich zwischen ihm und Anna los ist. Er erkennt, daß er immer mehr verlangt hat als gegeben und daß Anna immer und ohne Rückhalt alles gegeben hat, was sie hatte. Wenn es jetzt zwischen ihnen nicht mehr so ist, wie es sein soll, dann liegt das daran, daß Anna nicht mehr soviel geben kann wie früher. Es liegt am Exil. Anna ist härter getroffen als er, das Exil hat ihr mehr genommen.
Es ist nicht recht von ihm, daß er sich gegen sie sperrt und nicht
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