Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
sehen will, was ist. Auch in dieser Sache mit der Rundfunkaufführung der »Perser« ist er ungerecht. Die Geschichte war ein Erfolg, und es ist gemein von ihm, daß er das nicht wahrhaben will. Dabei hat ihm, wenn er ehrlich sein will, dieser Erfolg sogar innerlich weitergeholfen. Und daß sie den alten Sessel neu hat beziehen lassen und ihm neue Pantoffeln angeschafft, das ist doch auch kein Verbrechen. Aus bösem Willen hat sie’s bestimmt nicht getan, und wenn ein Dritter zwischen ihnen richten soll, dann würde er wahrscheinlich eher ihn für böswillig oder spinnet halten mit seiner Vorliebe für die alten Pantoffeln, den alten Sessel und seine Ruh. Sie jedenfalls hat’s gut gemeint. Alte, denkt er zärtlich, Alte, und beschließt, ihr zu zeigen, daß sich im Grund nichts geändert hat und daß alles noch genauso ist wie früher. Sie ist leicht zu haben; er braucht ihr nur ein bißchen gut zuzureden, dann ist sie versöhnt.
Er macht mit seiner Arbeit endgültig Schluß, zeitiger als sonst, und geht ins Aranjuez, voll stürmischer Reue. Er nimmt an, er werde als erster zu Hause sein, und freut sich darauf, die überraschte Anna gutmütig lärmend zu begrüßen. Allein sie ist schon da, sie ist im Begriff, sich zu Bett zu legen. Ihr fehlt nichts Besonderes, sie ist unwohl, sie hat die Regel. Sie hätte nicht zu Wohlgemuth gehen sollen und arbeiten, aber sie hatgewußt, daß es dort viel zu tun gab, und auf Elli Fränkel ist kein Verlaß. So ist sie eben hingegangen. Aber bald hat sie sich nicht mehr aufrecht halten können und hat nach Haus müssen. Übrigens hat sie, bevor sie sich fürs Bett zurechtmachte, für ihn etwas Kaltes zum Abendbrot hingestellt. Er findet es in der Küche.
Sepp bedauert sie mit unbeholfenen Worten. Schade, daß er keinen besseren Augenblick erwischt hat für sein Vorhaben, sich mit ihr auszusöhnen.
Sie liegt da und hat Schmerzen. In letzter Zeit wird ihr fast immer schlecht, wenn sie unwohl ist. In Deutschland war sie gewohnt, sich am ersten Tag zu schonen, und hier sollte sie es erst recht. Das viele Hin und Her bei Wohlgemuth, das lange Stehen, das Gerenne, das kann einem nicht gut bekommen. Man wird schnell alt, wenn man sich an diesen Tagen nicht schont, und für sie wäre es aus vielen Gründen wichtig, nicht zu schnell alt zu werden. Aber man traut sich nicht, gescheit zu handeln und auf weite Sicht. Man handelt immer nur für den Augenblick. Man ist feig geworden. Sie hat gesehen, daß der Doktor in eifrigem Briefwechsel mit London steht, sie will sich ihm unentbehrlich machen, sie will sich die Chance nicht verderben, mit ihm nach London zu gehen. Ach, von der zuversichtlichen, lebensmutigen Anna von früher ist so gut wie nichts mehr da. Sepp hat ganz recht, wenn er sich an die junge, glatte Erna Redlich hält. Es ist blöder Dünkel, daß sie glaubt, sich was zu vergeben, wenn sie in einer Erna Redlich eine Rivalin sieht. Erna ist viel mehr als eine Rivalin: längst ausgestochen hat sie sie.
Heute, das ist wahr, bemüht er sich offenbar besonders, sich ihr angenehm zu machen. Nicht nur zappelt er sich ab, tröstende, bedauernde Worte für sie zu finden, er hat auch die neuen Pantoffeln angezogen und den neuen Schlafrock. Aber sein ungelenkes Bedauern ärgert sie mehr, als daß es sie tröstet. Übrigens hat er sich bereits für die Nacht zurechtgemacht und trägt unter dem Schlafrock seinen Pyjama. Häßlich schaut das aus. Die Hose ist ihm natürlich hinaufgerutscht,wie immer, und man sieht die behaarte Wade. Er ist schon verdammt schlampig, und seine Schlamperei kompromittiert sie vor den andern; denn ihr schiebt man seine Vernachlässigung in die Schuhe.
Da hockt er also und schwatzt. Wie ihr zumute ist, davon ahnt er nichts. Er merkt nichts von der nie abreißenden Kette kleiner Leiden und Demütigungen, die sie auf sich nehmen muß. Er redet. Er erzählt ihr von seinem Gespräch mit Hanns, und daß es doch wohl noch eine gute Weile dauern wird, bis Hanns nach Moskau geht, und daß Hanns ein blitzgescheiter Bub ist, und daß es sicher noch möglich sein wird, ihm die Mucken auszutreiben. Alle Details seiner Unterredung mit dem Buben berichtet er ihr; er erspart ihr nichts von dem ganzen theoretischen Sums. Als ob sie seinen politischen Katechismus nicht ebensogut auswendig könnte wie den des Jungen. Das ist doch lauter blauer Dunst, was er sich da vormacht. Im Geist sieht sie die schlimme Szene, wie sich Hanns von ihr mit Geld hat freikaufen wollen. So weit von
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