Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
ihnen fort ist der Junge schon, und da glaubt Sepp, er könne ihn aus seinem Moskau zurückholen, wenn er ihm seinen demokratischen Quatsch zum hundertstenmal vorkaut.
Nein, es ist nichts mehr zu machen: die Stricke, die sie drei verbunden haben, sind endgültig gerissen. Anna hat seit jener bösen Geschichte Hanns nichts Neues mehr vorzuwerfen. Im Gegenteil, er scheint es zu bedauern, was er ihr angetan hat; wenn er sie sieht, bestrebt er sich, besonders respektvoll und gefällig zu sein. Aber er vermeidet es, mit ihr allein zu bleiben, und zu einer vertraulichen Aussprache kommt es nie mehr. Es ist bitter und komisch zugleich, wie er ihr aus dem Weg geht, wie er sich davor drückt, das Geschirr mit ihr zu waschen, oder es hastig zu Ende wäscht, solange sie noch mit dem Abräumen des Tisches zu tun hat, nur um der Intimität dieser gemeinsamen Arbeit zu entgehen. Sie überlegt, wann sie das letzte vertraute Wort mit Hanns gesprochen hat. Das war drei Tage vor jener Geschichte mit dem Geld. Damals hat sie ihm über den Kopf gestrichen, und er ist errötet und hatgelächelt, und es war Vertrautheit zwischen ihnen. Das war wohl das letztemal, daß zwischen ihnen Vertrautheit war.
Sie ist noch nicht alt; trotzdem hat sie oft das Gefühl, dieses oder jenes Erlebnis sei das letzte seiner Art. Wie sie Hanns über den Kopf gestrichen hat, das war wohl das letztemal, daß sie mit ihm vertraut war. Das kleine, nicht recht geglückte Bankett, das sie nach der Rundfunkaufführung gegeben hat, das war wohl das letztemal, daß sie ein Dutzend Leute zu Gast gehabt hat. Wann wird Sepp das letztemal mit ihr schlafen? Einmal muß es das letztemal sein, heißt es in einem dummen, unanständigen Couplet. Und wenn auch Sepps Worte und sein ganzes Wesen sie kratzen, so viel ist sicher und so viel muß sie erkennen, er hat heute offenbar den Willen, sich vor ihr aufzuschließen; in einem ganzen Vierteljahr hat er nicht so oft »Alte« zu ihr gesagt wie heute abend, und vielleicht ist das die letzte vertraute Stunde, die sie mit ihm hat.
Was für alberne Sentimentalitäten. Das rührt daher, daß sie unwohl ist. Sie will sich nicht gehenlassen. Sie rafft sich zusammen und wandelt sich zurück in die resolute Anna.
Daß Sepp heute zugänglicher ist, das ist ein glücklicher Zufall, und sie muß ihn ausnutzen. Schon seit Tagen hat sie sich vorgenommen, ihn zu warnen. Bei den »P. N.« ist was Unsauberes im Gang. Die Pereyros haben ihr angedeutet, es bereiteten sich dort Änderungen vor, der gewisse Gingold sei ein verdächtiger Kunde, und man tut gut daran, sich vorzusehen. Anna muß Sepp darauf aufmerksam machen, und heute ist er dafür in der rechten Stimmung.
Sie erzählt ihm also, und Sepp hört zu, gutgelaunt, aufmerksam, verträglich; aber er nimmt ihre Warnung wie ein Erwachsener das Gerede eines Kindes. Daß sie sich von den Pereyros ins Bockshorn habe jagen lassen, erwidert er, das sei wieder echt Anna. Überall rieche sie Unrat, immer müsse sie unken. Ihm sei der gewisse Gingold sicher zuwider, und daß sie einander nicht ausstehen könnten, das stimme auch. Aber von da bis zu den Greuelmärchen des Monsieur Pereyro seinoch ein weiter Weg. Daß der Gingold an der politischen Richtung des Blattes was ändern wolle, von so was zu faseln, das heiße einfach Gespenster sehen.
Anna hat dagegen nicht viel Sachliches vorzubringen. Aber die Pereyros haben eine gute Witterung, sie selber kann sich auf ihren Instinkt verlassen, sie beharrt bei ihrer Warnung. Möglich, daß in dieser Warnung ein bißchen Egoismus steckt. Wenn Sepp nicht länger auf der Redaktion der »P. N.« sitzt, dann wird sie es leichter haben, ihn, wenn es soweit kommt, nach London zu bringen. Auf alle Fälle wird er sich, wenn er von den »P. N.« fort ist, wieder mehr mit seiner Musik befassen, es wird mehr Gemeinsames zwischen ihnen sein. Ihr käme es also zupaß, wenn er kündigte, bevor man ihm kündigt, und sie wiederholt ihre Warnung. Leider aber ist sie nicht gut in Form, sie ist nicht ruhig und sachlich genug. Sepp ahnt ihre verborgenen Gründe und wird seinesteils allmählich verstimmt und streitbar. Die in guter Absicht angebahnte Aussprache endet unbefriedigend.
Trotzdem beschäftigte ihn Annas Warnung. Er erzählte Erna Redlich von den Gerüchten über Gingold. Erna nahm das Gerede nicht so leicht, wie er geglaubt hatte. Gewiß, stichhaltige Beweise für Gingolds unanständige Absichten gab es nicht. Aber Tatsache war, daß er sich immer eifriger in
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