Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
mitzunehmen.
Da hatten also, dachte sie grimmig, Sepp und Hanns nun doch recht gehabt, als sie das Aranjuez nicht gegen eine bessere Wohnung und Madame Chaix nicht gegen eine kostspieligere Aufwartefrau vertauschen wollten. Und auch darin hatte Sepp recht gehabt, daß er sich an seine Stellung bei den »P. N.« mit Nägeln und Zähnen klammerte. Jetzt wird also das Gefrette noch viel ärger werden. Für immer werden sie verurteilt sein, im Aranjuez zu bleiben. »Ich darf mir wohl Ihren Vorschlag ein paar Tage überlegen?« erwiderte sie. »Natürlich, natürlich«, knarrte forsch der Doktor. »Aber je eher Sie mir Bescheid sagen, um so mehr wäre ich Ihnen verbunden.«
Erst auf dem Heimweg kam ihr ganz zu Bewußtsein, was Wohlgemuths Entschluß für sie bedeutete. Sie werden im Aranjuez bleiben? Sie werden dazu verurteilt sein, dort zu bleiben? Wahrscheinlich werden sie froh sein, wenn sie im Aranjuez bleiben können. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Es ist symptomatisch, daß Pereyro, der Einfluß hat und guten Willens ist, ihr noch immer keine Arbeitskarte hat verschaffen können. Es wird schwerhalten, eine neue Stellung zu kriegen, und bestimmt wird sie schlechter bezahlt werden als bei dem Doktor. Es gibt jetzt gar keine andere Lösung: Sepp wird alles tun müssen, um den Ränken Gingolds zu entgehen und sich bei den »P. N.« zu halten; denn vorläufig wird man den Haushalt so ziemlich allein auf seinen Verdienst stellen müssen.
Nein, nein, nein. Sie will das nicht. Auf einmal merkt sie, wie stolz sie darauf war, daß bisher sie die Existenz Sepps und Hannsens gestützt hat. Ihr ganzes Wesen sträubt sich dagegen, daß sie ohne Beschäftigung in Paris sitzen soll. Das erträgt sie nicht. Es bleibt gar nichts anderes übrig: man muß nach London. Sepp muß das einsehen, er muß zustimmen, sie muß ihm das klarmachen.
Auf ruhige, vernünftige Art stellt sie Sepp die Gründe vor, die für die Übersiedlung sprechen. Wenn er dann auch sein Gehalt an den »P. N.« verliert, wichtiger ist, daß sie weiter verdient. Nicht nur weil ihr Gehalt größer ist, Wohlgemuth ist auch als Arbeitgeber ebenso verläßlich wie Gingold unzuverlässig.Sonst hätte ihr der Doktor nicht erst das Angebot gemacht, sie nach London mitzunehmen.
Während sie das sagt, denkt sie, wie gut es für sie beide wäre, wenn sie in London neu anfingen. Alles wird dann besser werden. Er kehrt zu seiner Musik zurück, eine neue Gemeinsamkeit wird zwischen ihnen beiden sein, alles wird gut.
Natürlich läßt sie von diesen Gedanken nichts verlauten, sie möchte keine Sentimentalität in die Aussprache bringen. Aber die Hoffnung auf das neue, bessere Leben in London gibt ihr Kraft, eindringlich zu sprechen, überzeugend. Man dürfe sogar, meint sie, nach dem schönen Erfolg der »Perser« damit rechnen, daß er in absehbarer Zeit mit seiner Musik Geld genug für sie alle verdient. Natürlich werde ihm seine Politik abgehen; aber habe er nicht selber gesagt, gute Musik machen heiße gute Politik machen? Und ab und zu einen Aufsatz für die »P. N.« schreiben, das könne er auch von London. In klaren, einfachen Worten setzt sie das auseinander, mit Wärme, ohne Übertreibung.
Sepps weichere, freundlichere Stimmung hat die ganzen letzten Tage vorgehalten. Er ist auch heute nicht grantig, eher aufgekratzt und handsam. Aber nach London gehen, davon will er nichts hören, er will nicht von Paris fort, und wenn er ihr das nicht glatt und klar sagt, dann nur aus Rücksicht auf sie, aus der Scheu vor Szenen, aus Feigheit.
Er weiß natürlich, daß das, was Anna vorbringt, Hand und Fuß hat. Aber die Vorstellung, in eine neue, große fremde Stadt zu müssen, bedrückt ihn, als stünde jetzt erst das wahre Exil vor ihm. Sein Phlegma, sein Fatalismus, seine Scheu vor dem Wechsel, seine Neigung, die Dinge treiben zu lassen, seine ganze münchnerische Gemütshaltung sträubt sich gegen den Energieaufwand, den Anna ihm zumutet. Wie soll er von London aus für Benjamin weiterkämpfen, ohne Zeitung? Wie überhaupt soll er von London aus Politik machen? Wie stellt sich Anna das vor? Und soll er seine letzten Freunde verlieren, Ringseis, die Leute von den »P. N.«, die Berger und Pfeiffer und Weißenbrunn und den musikalischen Peter Dülken?Und die politischen Organisationen, die er hier geschaffen hat, soll er die einfach im Stich lassen? Aber während er das in seinem Innern zusammensucht, weiß er, daß das keine Gründe sind, die er der soliden Logik Annas
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