Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
da in der Sonne saß, sonderbar aufrecht, mit starrem, zugesperrtem Gesicht.
Haltung, Haltung, dachte er. Aber wer gibt mir schon was für meine Haltung, und wozu hab’ ich sie nötig? Jetzt ist alles aus, darauf muß man sich einrichten. Meine Haltung hab ich übrigens vermutlich von ihm, von jenem Monsieur Wiesener, der mein Vater ist und das nicht wahrhaben will. Begreiflicherweise; es ist nicht viel Staat zu machen mit einem Sohn, der sich so unsterblich blamiert hat. Wahrscheinlich hat er recht gehabt, als er mir damals die Ohrfeige gab. Dabei steht es um ihn kaum besser als um mich. Sie nehmen ihn genauso her, die Herren von den »P. N.«, sie zerfetzen ihn genauso, eher noch mehr. Überhaupt ist er schuld an dem Ganzen, ihr Haß richtet sich gegen ihn, nicht gegen mich. Er hat sie offenbar gereizt. Er hätte wissen müssen, daß man einen nur dann reizen darf, wenn man es ungestraft tun kann. Monsieur Wiesener, mein Vater, der es nicht sein will, ist also nicht einmal ein Schuft, er ist einfach ein Dummkopf.
Wozu das Vergangene begrübeln? Der Strich ist gemacht, die Summe ist gezogen, sie ist Null Komma Null, weniger als Null, ein ewiges, nicht mehr einzuholendes Minus. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, aber vom Lächerlichen zum Erhabenen führt kein Weg zurück. Ich bin erledigt, meine politische Karriere ist abgedrosselt, schon vor ihrer Geburt. Mir bleibt nur übrig, die Hohnreden der andern einzustecken, mit Haltung oder ohne Haltung, wie es mir beliebt.
»Ist Ihnen schlecht, junger Mann?« sagt auf einmal jemand zu ihm. »Sie sehen so blaß und grün aus. Sie sollten nicht so in der Sonne sitzen, da holen Sie sich unvermeidlich einen Sonnenstich.« – »Danke, mein Herr«, erwidert höflich Raoul und steht gehorsam auf; er fühlt sich wirklich verdammt wackelig. »Schauen Sie schleunigst, daß Sie aus der Sonne kommen und sich im Schatten niederlegen«, rät der andere, und: »Danke, mein Herr«, wiederholt Raoul. Er geht auch gehorsam aus der Sonne und legt sich unter einen Baum. Ringsum sind spielende Kinder, Dienstmädchen mit Kinderwagen, Liebespaare, viele Menschen, alles riecht nach Staub und Schweiß. Aber das stört den sonst so Empfindlichen nicht; was ringsum ist, existiert nicht für ihn. Er spürt nur sein Herz, das heftig geht; der Zorn, den er zuerst hat unterdrücken können, steigt ihm auf einmal in heißen, erstickenden Wellen hoch. Ist ein Leben lebenswert, in dem kein Ehrgeiz mehr befriedigt werden kann? Was immer er tun oder lassen wird, es ist so sinnlos, wie daß er hier unter den Bäumen liegt.
So heftig, wie es ihn vorher hinausgetrieben, drängte es ihn jetzt, sich in seinem stillen Zimmer zu verkriechen. Mit schnellen Schritten lief er zurück. Lag auf seinem Sofa, so, wie er es seit frühester Jugend liebte, die Beine angezogen, ein kleines, zu Tod betrübtes, schmollendes Kind. Er wird keinen Bissen Speise mehr anrühren, er wird hier so liegenbleiben, für immer.
Dann rief man ihn zum Mittagessen, und er stand auf undging hinüber. Es verlangte ihn, das Gesicht der Mutter zu sehen. Das Speisezimmer war gut gekühlt, angenehm dämmerig, es gab leichte, kalte, sorglich bereitete Gerichte, Emile ging geräuschlos ab und zu. Das Antlitz der Mutter war mattfarbig wie stets, sie gab sich einsilbig, freundlich und gelassen. Trotzdem sah er ihr an, wie sehr sie dieser Schlag getroffen hatte. Ihre Nähe tat ihm wohl; der gleiche Mann hatte ihnen das gleiche Leid zugefügt.
Es war in Lea beim Lesen des Artikels der »P. N.« ein tiefer Widerwille gegen Erich aufgestiegen, etwas wie Haß, ein Gefühl, das sie nie vorher gegen ihn gespürt hatte. Wohl hatte ihre Vernunft ihr gesagt, daß dieser Angriff eher Erichs Unschuld bewies als seine Schuld; denn wenn er beteiligt wäre an Machenschaften, die dahin zielten, das Lamm des Armen zu rauben, dann hätte er Mittel und Wege gefunden, solche Angriffe zu verhindern. Allein gegen diese Argumente ihres Verstands erhob sich ihr Gefühl. Die Angriffe waren verdient. Sie schämte sich vor sich selber, daß sie es soweit hatte kommen lassen. Eines war gewiß: ob Erich schuld war oder nicht, sie ertrug solche Angriffe nicht länger. Aus dieser Stimmung heraus, spontan, hatte sie die Weisung gegeben, sogleich alles für ihre Abreise nach Arcachon vorzubereiten.
Als jetzt Raoul ins Zimmer getreten war, hatte sie mit Unbehagen daran gedacht, wie sie ihm ihren plötzlichen Entschluß mitteilen sollte. Er wird natürlich
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