Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
tragisch. Über den Gingold könne man doch nur lachen. Gut, dieser Lump und Idiot könne ihn nicht riechen. Aber er habe noch anderthalb Jahre Vertrag, er werde sich in Zukunft nicht mehr hinreißen lassen, sondern das Maul halten. Gerade erst recht werde er bleiben. Da müßte schon ein ganz anderer kommen als der Herr Gingold. Und wenn der Gingold wirklich Ernst machen sollte, dann würden Heilbrun und auch die andern Kollegen sich wie ein Mann vor ihn hinstellen. Das werde sie erleben. Da kenne er keinen Zweifel.
Daß er in einer so wichtigen Sache auf ihre Argumente überhaupt nicht einging, sondern auf billige Weise auswich, ärgerte Anna. »Wenn du dich nur nicht täuschst, mein Lieber«, sagte sie. »Ich möchte nicht die Probe machen, was deine Herren Kollegen tun, wenn man sie vor die Wahl stellt, ihre Existenz im Stich zu lassen oder dich. Sie werden sagen: zuerst einmal Brot für uns und unsere Kinder. Und das kann man ihnen nicht verdenken, das ist menschlich. Sei gescheit, Sepp«, bat sie herzlich. »Gehen wir nach London.«
Annas Gelassenheit, ihre Vernunft, selbst die Herzlichkeit ihres Tons brachten Sepp nur noch mehr auf. Sie hatte recht, und sie war diejenige, die es auf der ganzen Welt am besten mit ihm meinte. Aber sein unberechtigter Zorn war ihm willkommen, ja, er steigerte sich in eine immer größere Wut und Entschlossenheit hinein. Er sagte sich, wenn er nur diesmal noch fest bleibe und seinem Instinkt mehr vertraue als ihrer Vernunft, wenn er sich nur diesmal noch nicht unterkriegen lasse, dann werde er es endgültig geschafft haben und hierbleiben können. »Ich geh nicht nach London«, krähte er also heftig, böse, streitbar. »Ich mag nicht. Ich denke nicht daran.« Er stand da und schaute sie aus seinen tiefliegendenAugen finster und feindselig an. Er benahm sich wie ein kleiner Bub.
Alles in Anna empörte sich gegen Sepps Unvernunft. So gewiß auf diesen Sommer ein Winter folgen wird, so sicher wird in London für sie und Sepp und selbst für den Jungen alles zum besten gehen; das wußte sie unumstößlich. Und dieses gute London soll sie aufgeben, bloß weil Sepp »nicht mag«? Bloß wegen einer solchen dummen Laune soll sie an ihrer Statt Elli Fränkel nach London gehen lassen? Heftige Worte gegen Sepps Verbocktheit brannten ihr auf der Zunge. Aber sie bezwang sich. Sie war in Zeitnot. Übermorgen, vielleicht schon morgen, wird Wohlgemuth sie vor die endgültige Entscheidung stellen. Sie kann es sich nicht leisten, Sepp jetzt ihre wahre Meinung zu sagen, ohne Diskussionen heraufzubeschwören über Dinge, über die man sich ebensogut später unterhalten kann. Sie muß ihn herumkriegen, heute, jetzt. Nochmals, mit Ruhe, überzeugt und überzeugend, stellte sie alle Argumente vor ihn hin, die für die Übersiedlung sprachen.
Er aber verstockte sein Herz, er wollte nicht hören. Sie soll ihn in Frieden lassen, in Teufels Namen. Er stellte sich noch grimmiger, als er war, er spielte den wilden Mann. »Ich nehme an«, sagte er, »du hast in Frankreich dein Deutsch nicht ganz verlernt. Weißt du, was ›jamais‹ auf deutsch heißt? Jamais heißt niemals. Also: ich geh nicht nach London, niemals, niemals, niemals.« Und er schlug hinter sich die Tür zu.
21
Sommerferien
Raoul, als er den Angriff der »P. N.« auf sein Jugendtreffen gelesen, hatte sich mit eiskalter Sachlichkeit gesagt, daß also nun sein Projekt ins Wasser gefallen war und daß er sich für immer lächerlich gemacht hatte, vor den Deutschen und denFranzosen, vor Federsen, Heydebregg und Spitzi, vor seiner Mutter und vor sich selber.
Er saß in seinem hübschen Zimmer in dem Haus an der Rue de la Ferme, um ihn herum waren seine Bücher, seine geliebten, mit Fleiß und Geschmack zusammengestellten Möbel, in der Ecke stand der Hausaltar, die Roulettescheibe, das Bildnis André Gides, das Totengebein. Draußen war sengende Hitze, doch das Zimmer war angenehm kühl.
Allein Raoul ging fort aus dem schattigen Zimmer und hinaus in die pralle Sonne. Sonderbar benommen ging er vor sich hin, langsam, unjung, das Gesicht abwesend und weit über seine Jahre hinaus finster.
Er geriet ins Bois. Die Anlagen waren voll von Spaziergängern, die an dem heißen Tag hier etwas wie Frische suchten, alle Bänke im Schatten waren besetzt. Die Bank, auf der sich Raoul schließlich niederließ, stand in der prallen Sonne; er aber merkte die Hitze nicht und nicht die verwunderten Blicke der Vorübergehenden, die den Jungen musterten, der
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