Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
wieder,zu Hannsens Verwunderung. Der muß ihm ausdrücklich bestätigen, daß er ihn in dem guten, neuen Anzug vorgefunden hat, wie er nach Hause gekommen ist. »Das ist sehr wichtig«, sagte Sepp, auch das sagt er mehrere Male.
Hanns begreift nicht, was Sepp eigentlich will. Aber er denkt nicht darüber nach, er ist zu voll von seinen eigenen Gedanken. Nicht nur Sepp, auch er selber hätte sich anders benehmen müssen gegen diese tote Frau. Er spürt ihre Hand, wie sie ihm über den Kopf gestrichen hat; sie hat es oft getan, aber er weiß genau, wann es das letztemal war. Und daß er ihr die zweihundertfünfzig Franken angeboten hat, das war auch ganz dumm und roh. Sie haben sich in der letzten Zeit nicht mehr recht verstanden, er und die Mutter, sie hat von seiner neuen Welt nichts gewußt und nichts wissen wollen. Aber trotzdem hat sie alles für ihn getan, was ein Mensch für einen andern tun kann. Er wird es oft und hart merken, daß sie nicht mehr da ist. Zu blöd, daß er sich darauf eingelassen hat, dieses überflüssige Bachot zu machen. Sonst hätte er früher Geld verdienen können, dann hätte sie sich nicht so abschinden müssen, und dann wäre alles anders gekommen.
Seine Mutter, nun sie tot ist, hat eigentlich ein ganz andres Gesicht, ein strengeres, schöneres, als er es an der lebendigen gesehen hat. Oder hat er falsch gesehen? In diesen letzten Monaten war die Mutter für ihn nichts als eine immer geschäftige Hausfrau. Jetzt, nach langer Zeit zum erstenmal wieder, erinnert er sich, daß er sie nicht immer nur als die Frau gekannt hat, die mit ihm das Geschirr abwusch. Er bemüht sich, Bilder aus seiner Erinnerung auszugraben. Wie er noch ganz klein war, da war sie eine junge Frau in einem ausgeschnittenen Ballkleid, er sieht ihren Rücken, ihre strahlend schönen Augen. Ihr Gesicht, zart und doch frisch von Farben. Und dann stellt er sie sich vor, später, auf der Reise nach Paris, tätig, energisch, in einem Pelzmantel, sehr anders als diejenige, die er damals als kleines Kind gesehen hat, als die Frau im Abendkleid und mit dem nackten Rücken, sehr anders aber auch als die Frau an der Abspülschüssel. Das sindeigentlich lauter ganz verschiedene Frauen, und doch sind sie alle seine Mutter. Wie wenig weiß er von ihr, wie wenig hat er über sie nachgedacht.
Sepp steht unvermittelt aus seinem Wachstuchsessel auf. Es ist ihm das Ticken der Uhr zu Bewußtsein gekommen, es ist ihm aufgefallen, daß es schon Dienstagmorgen ist, und die Uhr muß doch am Montagabend aufgezogen werden. In seinem heimlichen Innern froh darüber, etwas tun zu müssen, was ihn von seinen dumpfen Gedanken abzieht, steht er auf, alle Glieder tun ihm weh, und der verblüffte Hanns sieht, wie er auf einen Stuhl steigt, um die Uhr aufzuziehen.
Der Schlüssel läßt sich nur ein unmerkliches Stück vorwärts drehen: die Uhr ist aufgezogen. Anna hat sie, bevor sie »das« tat, aufgezogen.
Mit einemmal überwältigt es Sepp. Mit einemmal weiß er, daß sie bis zuletzt an ihn gedacht hat, nur an ihn. Sie hat nur wenig Worte gehabt für das Walther-Lied, trotzdem wird es niemals mehr einen Menschen geben, der seine Musik so innig hört und versteht, wie sie sie gehört hat. Und auf einmal sieht er, beinahe gegenständlich, alles, was sie für ihn getan hat, ihre ewige große Liebe und ihre tägliche kleine Fürsorge, und was sie alles für ihn gelassen, wie sie sich ganz für ihn aufgegeben hat. Er sieht das alles in einem, hundert verschiedene Annas, die nur eine Anna sind. Er sieht die Anna, die todmatt und lächelnd und blutig nach der Geburt des kleinen Hanns dagelegen war, und die Anna, die am Flügel gestanden war, nachdem er ihr zum erstenmal die Siebenunddreißigste Horaz-Ode vorgespielt hatte, und die Anna, die, zusammen mit ihm, den sinnlosen, unmotivierten und doch so sinnvollen Lachkrampf bekommen hat, unmittelbar bevor der Minister ihm die Auszeichnung überreichte, und die Anna, die auf der Wiese lag, im Böhmerwald, mit den Sonnenflecken auf dem Bauch.
Da, plötzlich, in dieser fahlen Morgendämmerung, tat Sepp von neuem den Mund auf und begann seinem Buben zu erzählen. Er erzählte ihm von der jungen Anna, wie strahlend frisch sie gewesen sei und wie voll Humor und was für einguter Kamerad, und wie sie nichts krummgenommen habe, keinen dummen Witz und keine böse Laune. Er erzählte, wie sie gewesen war, noch bevor Hanns auf der Welt war. Hanns, der sie mit Bewußtsein und Urteil erst in diesen letzten Jahren
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