Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
von deutschen Agenten verschleppt worden. Und was wird später in den Zeitungen stehen? Nicht daran denken, es ist nicht auszudenken.
Sie muß sich zwingen, endlich einzuschlafen, so geht das nicht weiter. Die Gedanken drehen sich ihr sinnlos im Kreis. Helfen kann sie ja doch nicht, sie kann nur sitzen und warten. Sie nimmt ein Schlafmittel. Es dauert verzweifelt lange, bis es wirkt, und der Schlaf, den sie schläft, ist nicht freundlich.
Gegen Morgen träumt sie. Sie ist auf Skiern, wieso hat sie eigentlich die Einladung Janoschs doch angenommen? Es ist ein steiler Hang, den sie hinunter soll, der Schnee ist schlecht, er ist schon ganz schwarz, und es sind Spalten da, und der Skitrainer ist auch dagegen, auch ihre Eltern sind dagegen, sie sollte da wirklich nicht hinunter, es ist Wahnsinn. Aber das Hotel ist an sich schon viel zu teuer für ihre Verhältnisse, und wenn sie diesen Hang nicht einmal hinunterfährt, wozu zahlt sie dann die teure Pension, und wozu hat sie sich von Janosch einladen lassen, und was werden die andern von ihr denken? Fritzchen steht da, er macht traurige Augen und wachst ihr die Skier. Das ist eigentlich merkwürdig, wieso kann er ihre Skier wachsen, wo sie sie doch schon angeschnallt hat? Und ihr Vater sagt auch: »Schämst du dich denn nicht, dir von dem miesen Juden die Skier wichsen zu lassen?« Wichsen sagt er, das ist komisch, und er spricht sehr sächsisch, und sie geniert sich seinethalb. Sie hat maßlose Angst, hinunterzufahren, aber sie muß es tun. Das kommt davon, wenn man zu protzig daherredet, sie hat sich vermessen, alle schauen zu. Und wennsie jetzt nicht schnell macht, dann kommt sie auch noch zu spät zum Zug und fehlt bei der Beerdigung. Sie gibt Janosch einen kleinen Stoß, daß der voranfährt, er hat nur eine kurze Badehose an, das ist eine furchtbare Snobberei, denn es ist gar keine Sonne da, aber er sieht gut aus, und Fritzchens Augen werden immer kugeliger. Doch sowie sie Janosch den Stoß gegeben hat und der losgefahren ist, lacht sie ein bißchen albern und bleibt zurück und tut, als ob sie überhaupt nur einen Witz gemacht hätte. Das hat sie schlau ausgeknobelt. Aber Janosch ist gar nicht so dumm, wie er ausschaut. Trotzdem er Schuß fährt, macht er plötzlich halt, großartig macht er das, der Skitrainer sagt auch: »Großartig, da schau her, der Janosch«, und Janosch stapft wieder herauf, lachend, aber gleichzeitig drohend. Nein, jetzt hat sie keinen Vorwand mehr, sie muß den Hang hinunter. Da ist auch wirklich eine Spalte, sie hat es ja gewußt, sie schreit, man kann natürlich nicht in die Spalte hinunterschauen, aber sie kann es doch, es blinkt eisig von unten herauf, sie schreit furchtbar, sie schreit einfach darauflos, es ist kein Eis, es liegt einer da unten, es sind aufgerissene, kugelige Augen, und jetzt bricht sie in die Spalte ein. Janosch hilft ihr nicht, das hat sie sich gleich gedacht, ihr Vater tut auch nichts, als daß er komisch seine Arme hochwirft und schreit, er habe es immer gesagt, man muß sich wirklich mit ihm schämen, und an dem Eis kann man sich nicht festhalten. Sie hält sich fest, aber, sie hat es ja gewußt, es schneidet durch den dicken Handschuh durch, es zerschneidet ihr die Finger, es verbrennt sie. Sie fällt.
Das Telefon schrillt lange. Schwitzend, verstört, schaut sie um sich, greift nach dem Hörer. Es ist Heilbruns Stimme. Ja, leider hat sich alles bestätigt: Benjamin ist nach Deutschland verschleppt. Die Schweizer Polizei hat großartig gearbeitet. Es ist wirklich Dittmann, der ihn verschleppt hat, das ist einwandfrei festgestellt. Man hat ihn verhaftet, an der italienischen Grenze, wegen Menschenraubs.
5
Zahnschmerzen
Anna Trautwein sah auf die Uhr. Zwei Uhr zwanzig. Sie bliebe gerne länger und spräche Elli Fränkel weiter Trost zu. Aber es geht nicht. Sie kommt jetzt schon fast eine Stunde zu spät zu Doktor Wohlgemuth, zu ihrer nachmittäglichen Arbeit.
Ein bißchen unentschlossen schaute sie auf Elli. Die saß ihr gegenüber, erloschen, träge, die Augen auf dem schmutzigen Tischtuch. Erst war sie, offenbar völlig ausgehungert, gierig über die schlechten Speisen hergefallen, welche das kleine, billige Restaurant aufgetischt hatte; jetzt hockte sie da in stumpfer Sattheit. Es war Anna trotz entschlossenen Bemühens und gutgespielter Zuversicht nicht geglückt, die trostlose Dumpfheit zu durchbrechen, in welche Elli sich geflüchtet hatte. Anna hatte nach dem verzweifelten Brief, den Elli ihr
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