Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Baron Gehrke reserviert, dem heute die obern Vorderzähne abgeschliffen und Stiftzähne und Schienung angepaßt werden sollen. Es ist ein heißer Nachmittag, nicht günstig für ihr Vorhaben.
Anna ging ins Sprechzimmer. »Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«, sagte Doktor Wohlgemuth mit seiner etwas schnarrenden Stimme, nicht unfreundlich; er hatte gerade eine französische Dame in Arbeit. Er werkte weiter, erledigte die Dame, ließ den nächsten hereinbitten, bohrte, klopfte, füllte Zahnlöcher mit Zement, redete auf seine Patienten ein, munter, grimmig, liebenswürdig. Ein Strom von Sicherheit und Sachkenntnis ging von ihm aus, die Patienten fanden den langen Herrn bezaubernd.
Anna verrichtete ihre mannigfachen Funktionen. Leistete im Sprechzimmer kleine Hantierungen, bediente die Tür, das Wartezimmer, das Telefon. Besänftigte ungeduldige Patienten,traf Verabredungen. Der Doktor will nicht gestört sein; wenn sie ihn fragt, herrscht er sie an: »Machen Sie es doch, wie Sie wollen.« Hinterher krittelt er dann an dem herum, was sie vereinbart hat, und widerruft es.
Anna kann von Glück sagen, daß sie bei Wohlgemuth ist. Aber er ist überarbeitet, launisch, ungeduldig. Man muß schon ihre Gelassenheit haben, um mit ihm auszukommen, und manchmal reibt sie ihm auch eine kräftige, humorige Antwort hin. Viele von den Weibern beneiden mich, daß ich um ihn sein kann, denkt sie. Für die ist er brillant. Die Ungeduld, die Launen, die kriege dann ich zu spüren. Sie sieht ihn heute, gerade weil sie ihn um einen Dienst angehen muß, mit ungutem Aug und mäkelt im Geist viel an ihm herum. Seine laute, muntere Selbstsicherheit geht ihr auf die Nerven, sie findet ihn eitel.
Anna war ungerecht. Doktor Wohlgemuth liebte seinen Beruf mit Leidenschaft, er verband großes Fachwissen mit einem sichern Blick fürs Kosmetische und einer geschickten Hand und hatte sich, als Jude aus Berlin vertrieben, in Paris rasch Geltung verschafft, vor allem als Spezialist für kosmetische Zahnoperationen. Filmstars, Frauen der Gesellschaft, Leute, die gezwungen waren, viel öffentlich zu reden, vertrauten sich ihm an, auf daß er ihr Gebiß verschöne. Sein knochiges, gescheites Gesicht, seine heftigen Augen unter der starken Stirn, seine lange Kavalleristenfigur machten ihn, besonders bei Frauen, beliebt. Er hatte an seinem beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg naive Freude, er zeigte diese Freude, und wenn Anna ihn eitel fand, hatte sie nicht unrecht. Aber die Freude am eigenen Erfolg machte ihn hilfsbereit für weniger Begünstigte, er gab gern, viel und von Herzen.
»Also Freitag um drei Uhr dreißig, ich habe es vorgemerkt«, sagte sie höflich und hängte die Hörmuschel ein. Jetzt ist auch für den Freitag jede Minute besetzt, dachte sie grimmig. Morgen um elf hat er Demonstration an der Hochschule, an Huguenet hat er mindestens eine Stunde zu tun, an Mayer auch. Übermorgen kriegt diese verdammte Lilian Corona ihre Porzellanüberzüge.Das dauert wieder mindestens drei Stunden. Wer sie später im Film sieht, ahnt nicht, wieviel Mühe und Ärger uns ihre Zähne gekostet haben. Ich muß es heute machen. Ich muß heute mit ihm wegen Elli reden; in den nächsten Tagen ist er noch dicker besetzt. Am besten tu ich es, wenn er seinen Kaffee trinkt. Eigentlich müßte man ihm die paar Minuten Ausspannung gönnen, aber wenn ich überhaupt mit ihm reden will, geht es nur dann.
Endlich ist es halb sechs. Zwar sind noch Patienten da, aber Wohlgemuth schickt sie glücklicherweise fort, und Herr von Gehrke, der bereits gekommen ist, muß eben warten. Der Doktor trinkt jetzt seinen Kaffee und spannt seine paar Minuten aus.
Anna sitzt bei ihm und lauert darauf, die rechte Minute zu erwischen. Er hält die Kaffeetasse in seiner festen, großporigen, vom vielen Waschen aufgerauhten Hand. In dieser freien Viertelstunde ist er am besten zu haben, aber man darf ihm nicht mit der Tür ins Haus fallen. Man muß ihn vorher ein bißchen schwatzen lassen, das tut er gern.
»Die Leute vom SDE, die das Waschbecken hätten in Ordnung bringen sollen«, beginnt er denn auch nach einer Weile, »haben uns natürlich sitzenlassen. Eigentlich sollte man mit diesen SDE-Leuten Schluß machen.« SDE – das Wort setzte sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben von service des émigrés – war eine Organisation, die im Bedarfsfall, auf telefonischen Anruf, Leute schickte, bedürftige Emigranten, für Ausführung jeglicher Arbeit. »Man kann mit diesen Leuten nicht
Weitere Kostenlose Bücher