Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Kindes Hindele Schicksal lag.
Heilbrun fuhr nach Hause. Greta war mit dem Kind spazierengegangen. Ihm war es recht, daß er sie jetzt nicht zu sehen brauchte. Er lag auf der Couch, im verdunkelten Zimmer, die Zigarre im Mund, sie war ihm wahrhaftig ausgegangen, und sinnierte. Wenn die »P. N.« nicht mehr erscheinen, dann schadet dieses Verschwinden den Emigranten und ihrer Sache mehr, als ihnen das Blatt während der ganzen zwei Jahre seiner Existenz genützt hat. Überdies verliert er dann das letzte Restchen äußeren Behagens, er proletarisiert, und mit ihm Tochter und Enkelkind. Wenn er aber Gingolds Angebot annimmt und mithilft, daß die »P. N.« weitererscheinen, dann wird das eine flaue, bedenkliche Sache, und er, der dafür verantwortlich ist, wird keinem anständigen Menschen mehr in die Augen schauen können.
Die Haushälterin meldete, man wünsche ihn am Telefon zu sprechen. »Lassen Sie mich in Ruhe«, knurrte er verdrossen. Aber: »Es ist die gnädige Frau«, bestand die Haushälterin, »sie will Sie sprechen oder Frau Greta.« Heilbrun fuhrhoch. Er wußte nicht, ob er sich freuen oder ob er bedauern solle, daß Brigitte plötzlich einmal wieder in Paris war. Sie lebte in Wien, wo sie ein großes Schreib- und Übersetzungsbüro aufgemacht hatte, er hatte sie lange nicht gesehen, sie pflegte von Zeit zu Zeit unvermutet aufzutauchen, um sich nach ihm und nach Greta umzuschauen. Daß sie jetzt kam, geschah wohl wegen Gretas Unglück. Er hatte Furcht vor Brigitte und freute sich auf sie. Sie war energisch und geradezu, sie durchschaute einen und wußte das Geheimste aus einem herauszuholen. Er hatte Angst vor ihr und sehnte sich gleichzeitig, sich vor ihr auszuschütten.
In einem kleinen Schrecken also und mit viel Freude hörte er ihre Stimme im Apparat. »Was ist denn los?« fragte sie sogleich, streng, und: »Wieso bist du denn nicht auf der Redaktion? Und ist es wahr, daß Greta bei dir ist? Ihr scheint hier ja hübsche Geschichten zu machen. Es muß sich offenbar wieder einmal ein vernünftiger Mensch nach euch umsehen.« – »Das mag schon sein, Brigitte«, erwiderte er mit einem matten Versuch, zu scherzen. »Aber wollen wir das nicht lieber von Angesicht zu Angesicht besprechen?« Und man vereinbarte, daß sie bei ihm zu Mittag essen werde.
Merkwürdigerweise war er von dem Augenblick an, da er Brigittens Stimme hörte, fest entschlossen, Gingolds Angebot abzulehnen, ja er wollte nicht einmal wahrhaben, daß er jemals geschwankt hatte. Wenn er Gingold nicht sofort nein gesagt hat, dann nur deshalb, weil er sich’s gerade nach der Unüberlegtheit Sepp Trautweins zum Prinzip gemacht hat, in wichtigen Angelegenheiten immer ein paar Stunden verstreichen zu lassen, bevor er sich endgültig festlegt.
Brigitte kam. Aufgeräumt begrüßte Heilbrun seine »Jantje in Grün«. Jantje in Grün nannte er sie nach einer lustigen, blonden Frau mit einem großen, etwas verwaschenen, ältlichen Gesicht, einer Figur aus einem in Berlin hängenden Gruppenbild, einem zweifelhaften Frans Hals. Brigittens Antlitz, in ihrer Jugend strahlend heiter, hatte von Anfang an sozusagen unterirdisch die Züge dieser Jantje in Grün getragen,Heilbrun hatte sie oft damit geneckt, und er sah mit einer Art mitleidig spaßhafter Genugtuung, wie sich diese Züge jetzt immer mehr herausarbeiteten.
Brigitte erkannte bald, daß Heilbrun nicht allein um Gretas willen so bedrückt und verfallen war, und mit klugen, zielbewußten Fragen erkundete sie, was sich ereignet hatte. Er berichtete, etwas großartig zunächst, aber bald gab er seine Beschönigungsversuche auf. Und selbst als sie ihm auf den Kopf zusagte, er sei keineswegs von vornherein bereit gewesen, Gingolds Vorschlag abzulehnen, wehrte er sich nur schwach. Er atmete auf, als sie schließlich feststellte, die Hauptsache bleibe, daß er nur am Ende nein sage.
Dann kam Greta, und Frau Brigitte behandelte auch sie nicht eben sanft. Sie begriff nicht, wie Greta nur einen Augenblick daran hatte zweifeln können, daß ihr Oskar Kleinpeter sie zuletzt werde sitzenlassen. Besonders falsch war, daß Greta auf der Londoner Reise ihres Oskar bestanden hatte. Was sonst konnte bei dieser Reise herauskommen als eine Quälerei für beide Teile? Das Geld hätte man wahrhaftig besser für Besseres verwendet.
Nach dem Mittagessen zog sich Greta zurück, etwas gekränkt, aber doch eher aufgefrischt durch die harte, nüchterne Art, wie die Mutter die Dinge ansah, und Heilbrun und seine
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