Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Freunde hatte, als er wußte. Monsieur Mercier sah verwundert, wie viele respektabel aussehende Leute vorsprachen, um ihre Teilnahme zu bekunden. Auch große Stöße Post kamen; selbst Leonhard Riemann, ohne Scheu vor Zensur und Staatspolizei, schickte einen freimütigen, freundschaftlich erschütterten Brief.
Sepp nahm all das hin, ohne daß es ihn sehr berührt hätte. In dem Lehnstuhl, den Anna für ihn hatte beziehen lassen, an den Füßen die Pantoffeln, die sie für ihn gekauft hatte, hockte er, trübselig, hadernd mit sich selber, voll Grimm gegen die Welt.
Er beschwor Annas Bild herauf, es gelang ihm, leibhaft sah er sie vor sich, er hörte ihre geliebte, klingende Stimme. Er erinnerte sich jener bösen Nacht, da sie ihn zum erstenmal angeschrien hatte. »Verrückt bist du«, hatte sie geschrien, und: »Laß deine dummen Hände von der Politik.« So deutlichhatte er ihre Stimme im Ohr, daß er den Kopf schüttelte, wie um einen Wassertropfen herauszubekommen.
Doch die Stimme schwieg nicht, und sie sprach ihm, die Stimme der toten Anna, seltsamerweise eindringlicher, als es jemals die der lebenden vermocht hatte. Und mit einemmal war ihm, als verstünde er jetzt den Sinn ihres Todes: weil sie ihn nicht hatte überzeugen können, deshalb war sie gestorben. Ihm klarzumachen, daß er für seine Politik nur den guten Willen mitbrachte und keinerlei Talent und daß er somit die Pflicht hatte, zu seiner Musik zurückzukehren, ihm das klarzumachen, dafür hatte sie das Höchste eingesetzt, was ein Mensch einsetzen kann, ihr Leben. Sinnlos wurde ihr Tod nur dann, wenn er dieses ihr Opfer nicht annahm.
Als er sich das zurechtlegte, spürte er eine große Erleichterung: jetzt hatte er die Erlaubnis, zu seiner Musik zurückzukehren. Ehrliche, tiefe Dankbarkeit für Anna füllte ihn an. Ja, jetzt kehrt er zu seinem wahren Beruf zurück, und er wird die lange, unnütze Unterbrechung einholen, er verspricht es ihr wie ein Schüler, der was falsch gemacht hat. »Jetzt kann kommen, was mag, Alte«, sagt er ganz laut, und er weiß nicht, ob er zu ihr spricht oder zu sich, »jetzt mach ich nur mehr Musik. Und du wirst sehen, es wird etwas, was sich gewaschen hat.« Und: »Fahr wohl, schöne Gegend«, sagt er, und er meint wohl die »P. N.« und seine ganze politische Schreiberei.
Das war am Vormittag. Am Nachmittag kam Peter Dülken und erklärte, er habe wichtige Dinge mit ihm zu besprechen. Sepp antwortete widerwillig, er habe jetzt nicht den Kopf für Berufliches. Aber Pitt, mit seiner gewohnten pomadigen Energie, bestand darauf, angehört zu werden, und berichtete ausführlich, was sich in der Redaktion ereignet hatte.
Was Sepp zunächst spürte, war eine große, unvernünftige Freude. Er hat also recht gehabt: die Welt besteht nicht aus lauter Gingolds. Alle, dieser Pitt, der Pfeiffer, der Berger, alle stellen sie sich vor ihn hin, nicht einmal der Heilbrun, der Lump, hat sich drücken können. Daß Anna das nicht erlebt hat, dachte er. Immer kommt alles zu spät. Genau wie TüverlinsBrief für Harry Meisel zu spät gekommen ist. Ringseis hat schon recht mit seiner Wissenschaft vom Warten.
»Ich muß Ihnen nicht erst sagen, Pitt«, krähte er seine Freude heraus, »was für eine Erleichterung mir das ist, was Sie mir da mitteilen. Wenn ihr mich hättet sitzenlassen, ich hätte es mein Lebtag nicht verwunden. Ich war schon ganz auf dem Hund. Ich sag es Ihnen, wie es ist: Ich hab von Heilbrun schon so was gedacht wie: Saujud. Jetzt steh ich da und kann mich vor Ihnen schämen. Sie sind ein großartiger Freund, Pitt, ihr seid alle großartige Burschen.« Und er packte Pitts Hand und drückte sie mächtig.
Pitt, um keine Sentimentalität aufkommen zu lassen, lenkte auf Sachliches ab. »Wir haben diese ›Pariser Deutsche Post‹ gegründet«, legte er dar, »weil wir auf Sie nicht verzichten wollen. Wir brauchen Sie, wir müssen Sie haben. Große Worte liegen mir nicht, aber Ihr Name, man kann das schwerlich anders ausdrücken, ist jetzt erst recht zu einer Fahne geworden. In der ersten Nummer, an der besten Stelle, bringen wir den Beitrag, der zu dem Krach mit Gingold geführt hat, diese fingierte Hitler-Rede über Richard Wagner.«
Sepp verdüsterte sich. Er hat wieder einmal eine Dummheit gemacht. Er hätte seine Freude nicht so laut hinauskrähen dürfen. Da muß der andere ja denken, er, Sepp, werde für alle Zukunft auf dieser verdammten Redaktion hockenbleiben. Ausgerutscht, Hochwürden. Der Sepp spielt nicht
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