Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Lektüre ihn angezogen, wie tief er sich in seine Redaktionsarbeit verstrickt und verliebt hatte.
Das wird aber das letztemal gewesen sein. Damit ist er jetzt fertig, ein für allemal. Verbissen setzte er sich ans Klavier.
Machte sich an eines der Walther-Lieder. »O weh, wie sind verschwunden alle meine Jahr«, begann es, und es war ihm tief ins Herz gedrungen. »Die mir Gespielen waren«, hieß es weiter, »die sind träg und alt, versehret ist das Feld, verhauen ist der Wald, und nur das Wasser fließet, wie es weiland floß.« Ja, das ging ihn sehr an, und auch das: »Mich grüßet mancher träge, der mich eh kannte wohl«, ging ihn an, und auch jenes: »Immer mehr o weh«, mit dem das Gedicht schloß. Die Weise dazu ging ihm seit langem im Kopf herum, eine gute Weise, viel gemäßer und viel unmittelbarer als diejenige, die er seinerzeit zu der Horaz-Ode von den »flüchtigen Jahren« gefunden hatte. Aber heute fügte sich ihm nichts, nichts »kam«, alles blieb tot und kalt. Er war geradezu froh, als nebenan jemand mit ungelenken Fingern eine Mozart-Sonate herunterzuhämmern begann, so daß er einen innern Vorwand hatte, das Klavier aufatmend, mit Gedröhn, zuzuschlagen.
Er reckte die Arme, er hatte nein gesagt, er hatte sich nicht herumkriegen lassen, er gehörte jetzt seiner Musik. Das war gut, das war großartig, und wenn ihm sein Lied jetzt, des Morgens, nicht geglückt ist, dann wird es ihm eben am Nachmittag glücken.
Aber es glückte ihm auch am Nachmittag nicht und auch nicht am nächsten und nicht am übernächsten Tag. Er blieb unbeschwingt. Er sagte sich immer wieder, wie glücklich er sei, daß er Musik machen dürfe. Aber wenn er die »P. D. P.« sah, dann kam er sich vor wie ein Schüler, der die Schule schwänzt.
An diesem dritten Tag kam Tschernigg. Er war kein schlechter Freund, er war schon mehrere Male dagewesen. Bis jetzt hatte sich Sepp schweigsam gezeigt, ablehnend; heute empfing er Tschernigg voll gereizter, erbitterter Geschwätzigkeit, er ließ den Verdruß über sich selber an dem andern aus und suchte etwas, was den ärgern könnte. »Sie sind der einzige, Tschernigg«, erklärte er streitbar, »der nicht das Recht hat, mich zu bedauern. Haben nicht gerade Sie sich in höhnischen Strophen lustig gemacht über die spießbürgerlich armselige Bindung der Familie und die übelriechende Lauheit ehelicherBeziehungen? Wenn Sie mich jetzt beklagen, für was anderes soll ich es nehmen als für Ironie?« Und er zitierte Tschernigg Tscherniggs Verse.
»Es spricht für Sie, Professor«, anerkannte gelassen Tschernigg, »daß Sie meine Verse auswendig behalten haben. Mir selber sind sie etwas fremd geworden. Nicht daß ich sie verleugnen möchte, es sind ausgezeichnete Verse. Aber binnen sieben Jahren, steht irgendwo bei Strindberg, erneuern sich alle Zellen des Leibes, man wird von Grund auf ein anderer: ich bin meinen Versen einfach entwachsen. Ich bin Vitalist, wie Sie wissen«, fuhr er fort, sich vor Sepp zu rechtfertigen, »ich bin der Meinung, wer richtig leben und absolute Freiheit spüren will, muß alles auf sich nehmen, was es zu erleben gibt, er darf sich den Gefahren und Abgründen nicht nur nicht entziehen, er muß sie geradezu aufsuchen. Darum also habe ich die Sintflut auf mich genommen und das Risiko, darin zu verrecken. Ich habe die Sintflut erlebt, ich kenne sie: jetzt, mit zunehmendem Alter, hab ich genug davon, jetzt möchte ich auch die Arche erleben. Man ist ein sonderbares Gemisch, zuweilen ist man Faust, zuweilen ist man Mephisto, zuweilen ist man Herr Müller oder Herr Schulze. Ich bin zur Zeit Herr Schulze.« Und da Sepp statt aller Antwort nur hämisch grinsend schwieg, explizierte er weiter: »Heutzutage als Einzelgänger zu marschieren ist eine Kühnheit, die schon fast dumm ist, denn wer sich heute nicht einordnet, der kann es kaum vermeiden, daß ihn die Massen zertrampeln. Ich habe das genau gewußt und trotzdem den Mut aufgebracht, lange Jahre als Individualist zu leben, vermutlich als der letzte Individualist. Aber das ist abgelegt, Historie, vorbei. Es beweist Ihren zärtlichen Sinn fürs Historische, Professor«, schloß er höflich, »daß Sie an diesen Versen aus meiner individualistischen Zeit hängen.«
Sepp kratzte es, daß Tschernigg so ins bürgerlich Gemütliche abgerutscht war und überdies darin sein Behagen zu finden schien. Ist menschliche Art so unstet? Ist der Mensch nicht mehr der gleiche, wenn man ihm ein zweites Mal begegnet, sowenig man
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