Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
jetzt wird Anna mit ihrer Bitte losschießen.
Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Es ist komisch«, sagte sie, »aber ich muß Ihnen mit einer Bitte kommen, deren Erfüllung möglicherweise Ihre Erfahrungen mit dem SDE bestätigen wird«, und sie legte ihm die Angelegenheit ElliFränkels dar. »Na hören Sie, na wissen Sie«, sagte Wohlgemuth, »Sie muten einem aber allerhand zu. Können Sie denn einstehen für die Brauchbarkeit Ihrer Freundin?« – »Im Gegenteil«, erwiderte Anna. »Aber ich spekuliere auf Ihre Großzügigkeit. Nachdem Sie so viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, kommt es auf eine neue auch nicht mehr an.« Sie war im Zug, sie zeigte ihre großen, weißen Zähne, sie sah jung und frisch aus. Sie fühlte sich nicht mehr als die Emigrantin Anna Trautwein, die Kleinbürgerin aus dem Hotel Aranjuez, sie fühlte sich so sicher wie in ihren besten Berliner und Münchner Jahren. »Sie sind eine schlechte Mitarbeiterin«, stöhnte der Doktor, »daß Sie Ihrem geplagten Chef noch mehr aufbürden wollen.« – »Wann also darf Elli kommen?« fragte Anna sieghaft. »Ich hoffe«, grollte Wohlgemuth, »so viel gestatten Sie mir wenigstens, daß ich sie mir anschaue, bevor ich sie anstelle. Lassen Sie sie kommen, wann sie am wenigsten stört.«
Hatte Anna vorher bloß die unangenehmen Seiten ihres Chefs wahrgenommen, so sah sie jetzt an ihm nur mehr das Liebenswerte. Ihr Lächeln war nicht mehr beruflich, es kam von innen. Dem Doktor hatte seine SDE-Erzählung Spaß gemacht, auch die bevorstehende Sitzung mit Herrn von Gehrke versprach allerhand. Sie waren beide, Wohlgemuth wie Anna, glänzender Laune, als sie die Vesperpause beendeten und in das Ordinationszimmer zurückkehrten.
Anna bat den peinvoll wartenden Herrn von Gehrke herein, und Wohlgemuth forderte ihn auf, sich auf dem Operationsstuhl niederzulassen. Herr von Gehrke tat das mit gutem Anstand. Ja, Manieren hatte er; er machte, dieser Sekretär an der Deutschen Botschaft, mit seinem hübschen, leicht bräunlichen, jungen Gesicht, mit dem blonden, feinen, üppigen Haar und den sehr roten Lippen keine schlechte Figur unter den Pariser Diplomaten, und jetzt zeigte sich, daß er sich auch in unangenehmen Situationen, in denen andere häufig versagten, anmutig zu betragen wußte. Mit einem kleinen,liebenswürdigen, keineswegs gekrampften Lächeln saß er da und ließ die bösartigen, munteren Reden des Arztes in guter Haltung über sich ergehen.
»Wir haben heute«, begann Doktor Wohlgemuth seine grimmig joviale Suada, »ziemlich viel schmutzige, brutale Arbeit zu tun, und ich denke«, meinte er, gegen Anna gewandt, »wir werden dem Baron besser einen Kittel überziehen. Die Serviette genügt heute nicht. Monsieur le Baron ist beneidenswert gut angezogen.« Herr von Gehrke schlüpfte gehorsam in den Kittel. »Ich hoffe«, fuhr der Doktor mit der gleichen, bösartigen Bonhomie fort, »Sie sind gut in Form. Ganz so schmerzlos wie bisher, das habe ich Ihnen ja schon gesagt, wird es diesmal nicht abgehen, und langwierig wird es auch.« Er schraubte den Stuhl etwas höher, hieß Herrn von Gehrke den Mund öffnen. »Geben Sie dem Baron einen Spiegel«, sagte er zu Anna, und: »Na hören Sie, na sehen Sie, meine Herren«, freute er sich, zum zehnten Male, mit bedauerndem Kopfschütteln, das »meine« mächtig betonend.
Am liebsten möchte er eine ganze Volksversammlung einberufen und mir ins Maul sehen lassen, dachte erbost Herr von Gehrke. Aber er ließ sich nichts anmerken, ja, er versuchte zu lächeln, soweit man mit aufgerissenem Mund lächeln kann.
Daß Walther Reichsfreiherr von Gehrke, Sekretär an der Pariser Deutschen Botschaft, »Spitzi« für seine Freunde, hier saß, war ein Ereignis.
Dieses Ereignis hatte eine längere Vorgeschichte.
Herr von Gehrke war, bevor die Nazi an die Macht kamen, ein kleiner Taugenichts gewesen, er hatte sich als Autorennfahrer, zeitweise auch als gehobener Tennistrainer betätigt. Daß er seinen Posten erhalten, hatte er einer bestimmten geheimen »Leistung« zu verdanken, die ihm einen der Gewaltigen des Dritten Reichs zum Schuldner machte. Was ihn für sein Amt empfahl, war vornehmlich sein gutes, elegantes Äußeres. Er hatte mit seinen einundvierzig noch immer etwas frech und anmutig Jungenhaftes. Ein einziger Fehler störte den Eindruck seiner Erscheinung: wenn er die hübschen, rotenLippen öffnete, lugten dahinter kleine, spitze Zähne hervor, Rattenzähne geradezu, die obendrein kreuz und quer
Weitere Kostenlose Bücher