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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Stürme von Zorn und Rachsucht.
    Allein diese Anwandlungen vergingen, so schnell sie gekommen waren. Er stellte sich Klaus Federsen vor und zuckte die Achseln. Was dieses Halbtier von ihm denkt, was kümmert ihn das? Und was Monsieur Wiesener anlangt, so will er sich zwar nicht selber anschwindeln und sich vormachen, der Mann sei ihm gleichgültig geworden. Aber so viel weiß er: Daß er eine so kindische Rachsucht gegen ihn gespürt hat, das ist heute das letztemal gewesen. Wenn er in Zukunft über Wiesener ergrimmt sein wird, dann nur mehr deshalb, weil es ihm so verdammte Schwierigkeiten macht, den Mann in dem Werk einzufangen, an dem er arbeitet.
    Denn ach, dieses Werk, die Erzählung »Der Wolf«, geriet nicht. Raouls Siegeszuversicht war schnell verflogen, und er wurde sich der Mühsal der selbstgestellten Aufgabe bewußt. Er überlas, was er gemacht hatte, verwarf, verbesserte, verwarf wieder. Biß die Zähne zusammen, verlor den Mut, raffte sich von neuem auf, verzagte von neuem. Erkannte, sein Geschreibsel blieb seelenlose Photographie, toter Abklatsch.
    Abermals und viel tiefer studierte er »Sonett 66«. So leicht verständlich ihm das Werk vorgekommen war, als er es das erstemal las, jetzt merkte er, daß es voll war von Tücken und Tiefen. Harry Meisels Sachlichkeit war eine scheinbare, vorgetäuschte. Sein Werk war wie eine Zwiebel; hinter jeder Hülle zeigte sich eine neue, und man drang nicht vor zum Letzten, Innersten. Die Menschen des Buches wirkten beseelter, lebendiger als die Menschen in Fleisch und Blut, die Vorgänge des Buches hatten mehr Inhalt und Ausstrahlung als die Fakten der Wirklichkeit. Nicht einmal übersetzen ließ sich Harry Meisels Prosa, so klar und nüchtern sie sich stellte; der hinterlistige Autor hatte lauter Worte gewählt, die, scheinbar eindeutig, zu flirren begannen, sowie man sie fassen wollte.
    In seiner Not packte Raoul eines Tages alles, was er geschrieben hatte, zusammen und schickte es an den Mann, dessen leidenschaftlich bewundertes Vorwort ihn selber zur Aufnahme des »Sonetts 66« bereitgemacht hatte, an Oskar Tschernigg. Er schrieb dazu einen Brief, glühend, stolz, demütig und voll von Vertrauen. Er erhielt die kühle, doch nicht unfreundliche Antwort, es sei zu umständlich, die gestellten Fragen schriftlich zu erörtern, Monsieur Tschernigg stehe Herrn de Chassefierre, wenn ihm an Belehrung liege, in Paris zur Verfügung.
    Raoul nahm für ein paar Tage Urlaub von der überraschten Mutter, fuhr nach Paris, suchte Tschernigg auf.
    Es dauerte eine Weile, bis er darüber wegkam, in dem Verfasser des Essays einen unschönen, stacheligen alternden Mann zu finden. Dann aber verstand man sich rasch. Bescheidennahm es Raoul hin, daß Tschernigg mit spöttischer Höflichkeit alles zerpflückte, was er gemacht hatte; grausam und unwiderleglich zeigte er ihm, wie jämmerlich weit er hinter seinem Vorbild zurückblieb, und er ließ keine Verteidigung gelten. Raoul etwa suchte einen Einwand seines Kritikers zu entkräften. »Ja, aber so ist er doch in Wirklichkeit«, rief er eifrig, und Tschernigg, mit doppelt höflicher Sachlichkeit, erklärte: »Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß Sie mit Hilfe eines Modells gearbeitet haben. Kein Schriftsteller seit den Tagen Homers und der Bibel hat es anders gemacht. Aber wann je«, fragte er, und seine hohe Kinderstimme wurde noch sanfter und schneidend-verbindlicher, »wann je ist einem Schriftsteller die Wirklichkeit etwas anderes gewesen als einem Bildhauer der Stein, aus dem er seine Statue meißelt? Nur Banausen, mein junger Herr, messen den ›Reineke Fuchs‹ mit einem zoologischen Lehrbuch und den Homer mit den Ergebnissen der Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Institutes. Wie der Herr Held Ihrer geschätzten Erzählung in Wirklichkeit ist, mag einen Reporter interessieren oder einen Literaturhistoriker: mich und Sie geht es nicht mehr an als die Verdauungsbeschwerden der Katze meines Concierge.« Raoul erkannte zerknirscht, wie wenig ihm seine intime Kenntnis Monsieur Wieseners nützte. Andernteils machte es ihn stolz und hoffnungsvoll, daß sich Tschernigg mit seinem Manuskript so beflissen befaßt hatte. Auch sah er beglückt, daß er selber Tschernigg gefiel.
    Ja, Tschernigg gefiel die Begeisterung, mit der der Junge von Harry Meisel sprach; es kitzelte seinen Stolz, daß er mit solcher Ehrfurcht an seinen Lippen hing und jedes Wort seines Essays kannte wie ein Bibelforscher die Schrift. Je länger er mit

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