Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Raoul zusammen war, so mehr erinnerte ihn der an Harry Meisel, er fand in ihm jenen ästhetisierenden Nihilismus wieder, der ihn an dem Toten angezogen hatte.
Als sich Raoul verabschieden wollte, forderte er ihn auf, mit ihm zu Mittag zu essen. Raoul nahm erfreut an. Erstaunt sah er, daß Tschernigg einen langen Weg fuhr, um in einerelenden Kneipe zu landen, und daß er dann ein zweites Mal mit ihm die ganze Stadt durchquerte, um in einer armseligen Bar den Kaffee zu nehmen. Es war aber dies, daß es Tschernigg gelüstete, mit seinem neuen Freund an Stätten zusammen zu sein, wo er ehemals mit Harry Meisel gesessen war. Auf die gleiche abwechselnd höhnisch und bewundernde Art wie früher zu dem Toten sprach er jetzt zu Raoul.
Sie waren sonderbar anzuschauen, wie sie da in dem jämmerlichen Ausschank zusammensaßen, der hübsche Junge mit dem schönen, fleischlosen Kopf und der häßliche, schwammige, alternde Mann, aber sie waren verbunden durch Harry Meisel. Mit Bitterkeit und Süße stellte Tschernigg in seinem Innern fest, daß sich in ihnen der Tote gewissermaßen in zwei Teile gespalten habe. Der Tschernigg von heute setzte Harrys Rimbaudsche Sehnsucht fort, ein gierig raffendes Leben zu führen, dieser sein neuer junger Freund aber lebte den andern Harry weiter, den versnobten nihilistischen Artisten.
Raoul nutzte die Gelegenheit, sich von seinem neuen Meister Belehrung zu holen, und Tschernigg machte sich den Spaß, seinen Jünger wie durch Wechselbäder aus Hoffnung in Enttäuschung zu jagen und aus neuer Hoffnung in neue Enttäuschung. Er setzte ihm etwa auseinander, was alles noch der Novelle »Der Wolf« fehle, und Raoul erwog betrübt, da werde er wohl noch jahrelang mit der Erzählung zu tun haben. Ja, stimmte Tschernigg kalt zu, das dürfte wohl so sein; Horaz habe recht, ein Kunstwerk brauche neun Jahre zu seiner Reife. Dann aber riß er den Jungen wieder hoch aus seiner Niedergeschlagenheit, indem er tröstend auseinandersetzte, für das Publikum werde »Der Wolf« sicher schon bald präsentabel sein. Der ehrgeizige Raoul leuchtete auch wirklich sogleich wieder auf, und kindlich, seine Freude nicht verhehlend, sagte er auf deutsch: »Das wäre ja knorke, wenn ›Der Wolf‹ bald gedruckt würde.« Tschernigg wunderte sich über das Wort »knorke«, das sonderbar aus dem Mund des gewählt sprechenden Franzosen herauskam. Es war aber dieses »knorke« das einzige Überbleibsel aus der Zeit seinesProjekts mit dem Jugendtreffen und seiner Freundschaft mit Klaus Federsen, und Tschernigg machte es ein kleines, bösartiges Vergnügen, seinen neuen Freund über die Plattheit des Wortes nicht aufzuklären.
Nach Arcachon zurückgekehrt, machte sich Raoul von neuem an die Arbeit; sie war jetzt leichter geworden und gleichzeitig schwieriger, und es war kein Ende abzusehen. Trost indes blieb Tscherniggs Verachtung für das Publikum. Die teilte Raoul von jetzt an.
Bald fand er sein Manuskript in einem Zustand, daß er es der Mutter zeigen konnte. War nicht auch sie Publikum?
Es handelte aber die Erzählung »Der Wolf« von einem eleganten, sehr zivilisierten Mann, der indes eigentlich kein Mann war, sondern eben ein Wolf, wild, schnell, raubgierig, schlau und gefräßig – ja, diese Gefräßigkeit war wohl seine wichtigste Eigenschaft –, und es trug dieser Mann-Wolf die Züge von Leas Freund und Raouls Vater. Lea, während sie las, war oft befremdet von gewollt rohen und, wie ihr schien, gewollt originellen Wendungen. Aber es entging ihr nicht, daß Wesen und Schicksal des Helden neuartig dargestellt waren, mit einer Kunst, die sie kalt und unheimlich anmutete. Es war der Mann und war doch nicht der Mann, er war, er und seine Erlebnisse, bei aller Gegenständlichkeit in eine nicht greifbare Ferne gerückt. Raoul sagte nicht ja zu ihm und nicht nein, doch ging von der frechen Erzählung eine tiefe, bösartige Traurigkeit aus. Unser Leben ist nichts, Nichts, Nihil, diese Weisheit des Predigers Salomonis, neu und erschreckend gewendet, schien die Moral der Geschichte. Lea erschrak denn auch. War das ihr Sohn, ihr Raoul, der das geschrieben hatte? Und merkte er nicht, daß er den zynischen Überlegenheitsdünkel des Vaters ins Abstrakte gesteigert hatte? Ach, er war Erichs Sohn, nicht der ihre, obwohl Erich ihn verleugnete und sie ihn liebte, und er hatte sich in eine Stellung geflüchtet, wohin von ihr kein Weg ging
»Hast du mein Elaborat schon gelesen?« fragte des Abends Raoul, und da sie es gelesen
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