Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
sie beinah Angst vor dem Urteil ihres Sohnes; der beschaute die Menschen mit jüngeren, frischeren, schärferen, böseren Augen. Sie fürchtete sich vor dem neuen Zusammentreffen Raouls mit Erich.
Allein sie sah mit Erleichterung, daß Raoul seinem Vater liebenswürdig entgegenkam, unerregt höflich. Auch äußerte er niemals mehr ein Wort über ihre Beziehungen zu ihm.
Sie fragte sich, ob sie Erich von Raouls Novelle erzählen sollte. Sie unterließ es; es war sicher besser, nicht daran zu rühren.
In seinem Innern hatte Raoul ein beinah verächtliches Mitleid für die Mutter, die hilflos in die Liebe zu diesem Mann zurückglitt. Raoul hatte von ihr die Lust geerbt, Menscheninteressiert zu beschauen, und die Fähigkeit, sie sachlich zu beobachten, selbst im Affekt. So beschaute er jetzt die Mutter. Monsieur Wiesener gar wurde ihm aus einem Gegenstand des Hasses vollends zu purem Stoff, zu einem Stoff, den er dem Rat Tscherniggs zufolge betrachtete wie der Bildhauer das Holz, aus dem er seine Statue schnitzt.
Zuerst freute sich Wiesener über die untadelige Liebenswürdigkeit seines Sohnes. Allmählich aber verdroß ihn dessen freundliche Kälte, und schließlich wäre ihm lieber gewesen, Raoul hätte ihn gehaßt.
Spitzi verkannte nicht, daß seine Situation allmählich brenzlig wurde. Heydebregg hatte sich innerlich offenkundig für seinen Rivalen Wiesener entschieden. Die Leitung der unterirdischen Propaganda in Frankreich, die bisher ihm unterstand, ging immer mehr an die Partei über. Wenn nun gar noch der Fall Benjamin übel ausgeht, dann wird die Partei den Anlaß mit Freuden benützen, um auf seine Absägung zu drängen.
Da tauchte die »P. D. P.« auf, und es zeigte sich, daß Wieseners großer, kostspieliger Plan mißglückt war. Jetzt mußte Heydebregg erkennen, daß er auf den falschen Mann gesetzt hatte. Nach soviel Unfällen wird es sich das Nilpferd zweimal überlegen müssen, ob man Wiesener noch halten kann. Schon sah Spitzi den Erzfeind am Boden liegen.
Gespannt wartete er auf Heydebreggs Rückkehr aus Arcachon. Aber dann fuhr der Parteigenosse direkt nach Berlin weiter und hielt es trotz der mehrwöchentlichen Abwesenheit nicht für der Mühe wert, mit ihm zu konferieren. Das war eine böse Brüskierung. Wenn Wieseners Stellung geschwächt war, seine eigene war dadurch offenbar nicht besser geworden.
Ach, man wurde alt. Wohin war der schöne Fatalismus entschwunden, den er früher den ewigen Schwankungen des Schicksals und den Launen der Machthaber entgegengesetzt hatte? Er versuchte, seine Sorgen durch intensivere Vergnügungen zu betäuben. Er versuchte, sich in eine ernsthaftePassion zu Corinne Didier hineinzusteigern. Ihre Note, eine sonderbare Mischung aus zynischer Weltklugheit und Mystik, zog ihn an. Sie hatte die Fähigkeit, beim geringsten Anlaß in Trance zu fallen, sie hörte Stimmen, sie hatte einen »inneren Gebieter«. Vorläufig versagte sie sich ihm mit Berufung auf diesen »inneren Gebieter«.
Heute hatte man, Corinne und er, gut gegessen, sich in kleiner Gesellschaft einen verbotenen Film vorführen lassen, nun war man in seiner eleganten, etwas liederlichen Wohnung, und wenn er sich etwas anstrengt, dann dürfte er heute den »inneren Gebieter« wohl herumkriegen. Leider aber hinderten ihn gerade an diesem Abend Gedanken an Heydebregg, an Wiesener und an die Zukunft, sich mit gewohntem Elan ins Zeug zu legen. Er saß im Sessel, faul, rauchend, während das hübsche, weißhäutige Geschöpf neugierig durch seine Zimmer schlenderte. »Wenn Sie sich wirklich so in den andern einfühlen können, Corinne«, sagte er frech, »dann sagen Sie mir schnell, warum ich so schlechter Laune bin, daß selbst Ihre angenehme Gegenwart mich nicht aufheitern kann.« – »Sie denken an das Ende eures scheußlichen Regimes, mein Freund«, erwiderte sanft Corinne. »Ungewöhnlich schlecht getroffen«, sagte er. »An das Ende des Regimes denken wir alle, seitdem es begonnen hat. Wenn wir da immer schlechter Laune sein wollten. Ach, Corinne, ich sehe, mit Ihrer inneren Stimme ist es auch nicht weiter her als mit der von Berchtesgaden.«
Corinne hatte sich auf diesen Abend gefreut, und als sie eingewilligt hatte, die Wohnung des Boche-Diplomaten zu betreten, war sie entschlossen gewesen, auf weitere Einwände des »inneren Gebieters« nicht zu achten. Schade, dachte sie, daß dieser Spitzi auf einmal nicht mehr recht bei der Sache ist.
Jetzt, dachte Spitzi, müßte man eine gute Idee haben.
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