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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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saß vor ihm, rauchend, und mit seinen kugeligen, traurigen, dringlichen Augen schaute er sie an, unverwandt. In vielen, endlos langen Stunden hatte er versucht, sich ein Bild von ihr zu machen, aber es war ihm nie recht geglückt. Mißtrauisch, wie er war, hatte er immer den Verdacht gehabt, die Ilse, die er sich in der Einsamkeit seiner Zelle zurechtmachte, sei idealisiert. Nun aber hatte die wirkliche Ilse etwas von dieser Ilse seiner Zelle, und sie war doch leibhaft, war doch nicht geträumt. Sie gefiel ihm tief, wie sie so vor ihm saß, er liebte sie, er war erfüllt von ungeheuerm Dank für diese Frau, die so viel für ihn getan hatte und die jetzt vor ihm saß und ihn betreute. Aber er wartete darauf, voll kitzelnden, fast quälenden Verlangens, daß sie ihm ein scharfes, höhnisches Wort sage, wie sie es früher getan hätte. Sosehr er die Frau liebte, die da ergeben vor ihm saß, er vermißte jene, die ihn ständig aufgezogen und schlecht behandelt hatte, er sehnte sich nach der Ilse, die er verlassen.
    Sie schaute nachdenklich auf ihn, während er schwatzte, und als er verstummte, war sie beinah froh, daß sie ihn in Ruhe betrachten konnte. Ihr Instinkt hatte also recht gehabt damals, als sie ihm zum erstenmal begegnet war: er war ein außergewöhnlicher Mensch. Jetzt hatte auch sein Schicksal bewiesen, daß alles an ihm und um ihn außergewöhnlich war; denn wenn er nicht so fanatisch überzeugt gewesen wäre von seiner Sache, dann hätte ihn das Schicksal nicht dazu bestimmt, für diese seine Sache so sichtbar zu leiden. Sie liebte ihn neu und stärker als bisher.
    Es war aber ihrer Liebe ein leises Gefühl der Fremdheit beigemischt. Sicher war es ein großes Glück, daß dieser Mann ihr Mann war, aber sie mußte sich erst daran gewöhnen. Seine sonderbare Scheu und Geschwätzigkeit, das Abwesende, fahrig Zerstreute an ihm, sein plötzliches Verstummen, alles das ängstigte sie. »Meine Güte«, konnte sie sich nicht enthalten, laut zu sagen, sehr sächsisch.
    Und diese wohlbekannten Laute, die er so lange hatte entbehren müssen, stellten mit eins die alte Vertrautheit her,zeigten ihm hinter Ilses neuem ihr altes Gesicht, machten ihn spüren, daß er zu Hause war. Er lächelte zu ihr hinüber, dankbar, zärtlich.
    Dann aber kam wieder die tiefe Müdigkeit über ihn. Sie sah, daß ihm die Augen zufielen, und brachte ihn zu Bett. Wie oft hatte sie gebrannt vor Verlangen, mit ihm zu schlafen. Jetzt war sie nicht einmal sehr enttäuscht, wie er todmüde dalag, offenbar nichts begehrend als Ruhe. Sie saß bei ihm, beschaute ihn, wartete, bis er, ihre Hand haltend, eingeschlafen war.
    Zwei Tage später hatte sich Friedrich Benjamin halbwegs erholt. Freilich konnte er die Vorstellung nicht loswerden, er sei im Konzentrationslager, ausgeliefert der Willkür rohen Gesindels. Immer wieder mußte er sich klarmachen, daß er, wenn er nur wollte, herumgehen könnte in der Stadt Paris als sein eigener Herr. Er ging nicht aus. Er hatte Scheu davor, Bekannte zu sehen, mit ihnen zu sprechen.
    Langsam verlor sich sein Gefühl der Fremdheit vor Ilse, er entdeckte unter dem lebendigen, wissenden und viel entschiedeneren Gesicht der Frau, mit der er jetzt zusammen war, das zarte, freche, weiße der Dame von früher, und allmählich schmolz ihm die launische, bösartige Ilse von früher in eines mit der Frau von heute.
    Jetzt, da er sich geborgen und ihr wieder verbunden fühlte, wich die nervöse Geschwätzigkeit des ersten Tages, und er konnte erzählen, wie er’s sich gewünscht hatte, das Wesentliche und das Unwesentliche an der rechten Stelle.
    Er erzählte, wie er in der Einzelzelle gelegen war und auf die Geräusche des Lagers gehört hatte. Entweder war es ganz dunkel, dann bevölkerte man die Dunkelheit mit scheußlichen Gesichten und sehnte sich nach Licht, oder aber man lag die ganze Nacht hindurch im Strahl der grellen Lampe und sehnte sich nach Dunkelheit. Es kamen Klopfsignale, doch er war ungeschickt und konnte sie nicht enträtseln. Er hörte die Tritte der Wachmannschaften, er wartete darauf,daß sie kämen; sie kamen, sie gingen vorbei. Er hörte das Türenschlagen, Wimmern, ferne Schreie.
    In der Einzelzelle zerging man vor Sehnsucht nach anderen. Lag man mit andern zusammen, sehnte man sich nach Einsamkeit; denn es war furchtbar, so viele mißhandelte, geschundene Kreaturen anzuschauen, ihre Ausdünstungen zu riechen, ihre Qualen mit zu erleben, darauf wartend, daß an einem selber ähnliches

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