Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
schien alles glatt zu gehen. Verdammte Schweinerei.
An sich hatte Spitzi dem Redakteur Friedrich Benjamin weder Gutes noch Böses gewünscht. Seine Leidenschaften waren dünn. Er hatte ein einziges wirkliches Bedürfnis: sich zu amüsieren. Er hielt es für sein gutes Recht, die Erfüllung dieses seines Bedürfnisses von der Gesellschaft zu verlangen. Dieser Anspruch allein schon rechtfertigte seine Order an Dittmann. Jetzt aber, hinterher, nachdem die Geschichte nicht glatt gegangen war, verspürte er so etwas wie Katzenjammer.
Bei alledem blieb es komisch, daß der Zahnmensch stolzdarauf war, er habe ihm, dem Nazi, eine große Summe für die Emigranten entsteißt, während er faktisch durch seine gesalzene Rechnung nichts bewirkt hatte als die Entführung des guten Benjamin. Wenn man sich die Zusammenhänge ganz klarmachte, war es ein großartiger Spaß. Der Bär hatte Sinn für solche Späße. Wenn Spitzi dem Bären von dem Theater erzählte, genügte das allein, ihn zu halten.
Solche Gedanken waren in ihm, während Wohlgemuth an seinem Kiefer herumwerkelte, bohrte, schliff, feilte. Dann holte der Doktor die Watte heraus, und Spitzi durfte endlich den aufgerissenen Mund wieder schließen. »Spülen Sie«, befahl Wohlgemuth. Spitzi gehorchte gern. Er spülte, er führte die Zunge dahin, wo vor wenigen Minuten noch Zähne gewesen waren. Es war ein sonderbares Gefühl, die Zunge an dem zahnlosen Kiefer zu reiben, an den zackigen, blutigen Stümpfen der Zähne, die sich sonderbar leblos und fremd anfühlten infolge der schmerzbetäubenden Injektion.
Dann beschäftigte sich Wohlgemuth mit den Wurzeln; er räumte die Wurzelkanäle aus, wie er sagte. Die Wirkung der Injektion ließ nach, Herrn von Gehrkes Gaumen begann zu prickeln. Wohlgemuth hatte noch lange und intensiv in Herrn von Gehrkes Mund herumzuhantieren. Es wurden um Zähne und Zahnstümpfe kleine Ringe gepreßt, die ins Zahnfleisch einschnitten, es wurden Wachsabdrücke und Gipsabgüsse des Gebisses genommen, es war kein angenehmer Nachmittag.
Der Doktor, während der Arbeit, stellte Betrachtungen über Herrn von Gehrkes neue Zähne an. »Ab und zu«, erzählte er, »gehe ich ins Theater und besichtige meine Zähne. Die von Raymond Fontagne meine ich. Ich bin nicht zufrieden damit, offen gestanden, sie sind zu strahlend, zu schön. So schön gibt’s nicht. So schön liefert der liebe Gott nicht, so schön liefert höchstens Doktor Wohlgemuth. Ich habe ihm zugeredet wie einer kranken Kuh. Weniger schön ist schöner, habe ich ihm erklärt. Aber diesen Schauspielern ist nicht zu helfen. Sie sind zu eitel. Machen Sie nicht den gleichenUnsinn, Monsieur le Baron. Ich rate Ihnen, solange es noch Zeit ist. Ich rate Ihnen gut. Wenn Sie mich fragen, ich finde, was Sie sich ausgesucht haben, zu strahlend. Wählen Sie sich Ihre geschätzten neuen Zähne nicht gar so schön. Schauen Sie«, und er legte ihm einige Zähne vor, »die da sind eine Idee stumpfer, eine Idee gelber. Sie wirken natürlicher.« – »Nehmen Sie immerhin die strahlenden«, mummelte mit zahnlosem Kiefer Herr von Gehrke.
Es war fast neun Uhr, als Wohlgemuth endlich von Spitzi abließ, sehr erschöpft er selber, doch befriedigt. Er beschaute den Scheck, den Herr von Gehrke ihm eingehändigt hatte; es war ein Scheck über fünfzehntausend Franken, die zweite Hälfte des Honorars. Liebevoll beschaute er ihn, dann sperrte er ihn in die Schublade. Morgen wird Frau Trautwein eine schöne Adresse schreiben, und er wird die Summe dem Hilfskomitee für deutsche Emigranten überweisen. Der Doktor ist stolz auf die Höhe des Betrags, noch stolzer auf den Witz und die Klugheit, mit welcher er gerade diesem Gehrke das Geld aus der Nase gezogen hat. So ähnlich wie jetzt Monsieur le Baron mag seinerzeit der Staatskanzler Haman empfunden haben, als er sich gezwungen sah, den Mardochai auf dem Leibpferd des Königs Ahasver glorreich durch die Stadt zu führen und, sauren Mundes, vor allem Volk den Ruhm dieses Mardochai zu verkünden.
Doktor Wohlgemuth irrte. Herr von Gehrke fühlte keineswegs wie seinerzeit der Staatskanzler Haman. Er fuhr nach Hause, legte sich ins Bett, nahm schmerzstillende Mittel und eine Flasche Nuits St. George 1911. Es ging ihm zusehends besser. Es war gar nicht unangenehm, einmal einen Abend zu Hause und allein zu verbringen. Er las die Abendzeitung, dann wählte er unter ein paar Büchern, die er schon lange, auch aus amtlichen Gründen, hätte lesen sollen, und entschied sich
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