Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
ist ein Unterschied zwischen der Eitelkeit eines Jahrmarktboxers, der sich vor seiner Bude anstaunen läßt, der Eitelkeit des Führers auf dem Nürnberger Parteitag und seinem eigenen Selbstbewußtsein. Es ist ein Unterschied, wenn der Führer ins Mikrophon brüllt: »Ich habe die Welt vor dem Bolschewismus gerettet«, und wenn er, Erich Wiesener, sich der Bücher freut, die erpflegt und studiert. Nicht nur, weil er diese Bücher erworben, in jeder Hinsicht »verdient« hat und der andere die Welt keineswegs vor dem Bolschewismus gerettet. Es gibt erlaubte, notwendige, verdienstvolle Eitelkeiten. »Exegi monumentum aere perennius«, diesen Vers hinzustellen war eine Tat. Horazens Eitelkeit war ein Verdienst. Auch der Prediger Salomonis war eitel, Alexander, Cäsar, Goethe, Goya. Welcher große Mann nicht? Es bleibt immer nur die Frage, abzuwägen, wieweit Selbstbewußtsein und Leistung einander entsprechen. In Paris, in der Hauptstadt des Feindes, Repräsentant der souverän schaltenden Partei des mächtigen mitteleuropäischen Reiches zu sein, das erreicht zu haben, als Sohn eines armen Offiziers, ohne die Unterstützung einer Clique, noch dazu mit gutem Gewissen und ohne Preisgabe des eigenen Stils, meine Herren von den »Nachrichten«, das ist allerhand.
Mit einem tiefen, bösartigen Lächeln geht er zurück ins Schlafzimmer, öffnet das Safe, nimmt die Handschrift heraus, nach der er vorhin geschielt hat, ein Manuskript großen Formats, gebunden in grobes, naturfarbenes Leinen. Er schlägt den Band auf. »Historia Arcana«, Geheimgeschichte, hat er auf die erste Seite geschrieben, und sorgfältig verzeichnet hat er in diesem Band alle jene politischen und sozialen Begebenheiten, um die er weiß und von denen er nicht schreiben darf; aufgeschrieben weiter hat er hier seine innersten Meinungen und Gedanken, nackt, bestimmt nur zur eigenen Erinnerung und für die Nachwelt. Sein Gewissen, findet er, ist dieses Buch, seine spätere Rechtfertigung. Nimmt er es in die Hand, dann entstehen in ihm Regungen, anknüpfend an Begriffe wie Beichte, Gerichtstag, Konfessionen, Sigmund Freud. So wie jener byzantinische Prokop hymnische Bücher schrieb über die Taten und Bauten seines Kaisers Justinian, heimlich aber alles zusammentrug und verzeichnete, was in diesem Mann und um ihn Gemeines und Lächerliches war, so wie der Maler Goya öffentlich für den Bruder Napoleons malte, heimlich aber wüste und großartige Blätter zeichnete gegen ihn, gegen seine Franzosen und ihren Krieg, so zeigte er, Erich Wiesener,seiner Öffentlichkeit nur die eine Seite der Geschehnisse, die andere aber zeigte er in diesem Buch. Sorglich aufbewahrt war da, treulich festgehalten zwischen den zwei soliden, leinwandüberzogenen Deckeln, nicht nur sein eigenes wahres Ich, sondern auch die wahre Welt der Nationalsozialisten, ihr Führer, ihr Reich, ihre Politik, ihre Gemeinheiten, ihre Lächerlichkeiten.
Er schlug das Buch auf, irgendwo, es dem Zufall überlassend, wohin er geraten werde, und las. Kraus reihten sich die stenographischen Zeichen, manchmal hatte er Mühe, ein Wort zu entziffern. So scharf und mitleidlos die Welt um ihn gesehen war, die Bespiegelungen und Bezichtigungen des eigenen Selbst – wieder fiel es ihm auf – waren nicht ganz ohne Koketterie. Wahrscheinlich trug er ein bestimmtes, ihm wohlgefälliges Bild von sich selber in der Seele und paßte unbewußt die Wiedergabe seiner Gefühle, Bilder und Gedanken den Zügen dieses Bildes an. Soweit indes ein Mensch bei einem solchen Versuch ehrlich bleiben kann, ist er es geblieben. Er las also, lächelte, schüttelte überlegen den Kopf über die komische, vielfältige Welt, in die er hineingestellt war, und hatte manchmal Staunen, öfter Verachtung, noch öfter Bewunderung und immer Interesse für diesen verfluchten, großartigen, zynischen, sentimentalen Zeitgenossen, für diesen albernen, selbstgefälligen, objektiven, tiefgründigen, oberflächlichen, kurzsichtigen, weitblickenden, gescheiten Burschen Erich Wiesener, Ebenbild Gottes.
Dann ging er ans Werk, seinen Morgen festzuhalten. Schrieb nieder, was er von den »Nachrichten« dachte, von Sepp Trautwein, von Friedrich Benjamin, von den Emigranten überhaupt, von den Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und ihnen und von seinen eigenen Beziehungen zu der Welt der »Nachrichten« und der Emigranten. Er schrieb schnell, mit nur seltenen Pausen, auf daß nicht Überfeilung das Ursprüngliche der Gedanken und Gefühle
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