Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
immerzu von der Dialektik der Dinge und sehen nicht ein, daß eine Wahrheit von morgen heute eine Lüge sein kann. Wahrheiten von morgen kann man niederlegen in Büchern, die für die Zukunft bestimmt sind. Wer heute wirken will, kann solche Wahrheiten nicht brauchen. Das war die Praxis aller großen Männer. Nehmen wir Goethe. Im »Faust« hat er Gretchen begnadigt. In der Praxis hat er, gegen die Stimmen der andern, die Kindesmörderin zum Tode verurteilt. Vor dem eigenen Gewissen war er rein, da er sie ja, für die Zukunft, begnadigt hatte. So hält er, Wiesener, es auch. Er schickt einen schlauen, spitzbübischen Blick hinüber nachdem Safe in der Wand. Dort liegt, dick, groß, jeden Abend vollendet, jeden Morgen Fragment, ein Manuskript. Auch er, Wiesener, kann vor seinem Gewissen bestehen.
Er richtet sich im Bett hoch, sieht seine Post durch. Es sind Bitten, Einladungen zur Mitarbeit, Aufforderungen zur Teilnahme an der oder jener wichtigen Sitzung, Frauenbriefe, lauter Schreiben, die ihm bestätigen, daß man ihn schätzt, liebt, fürchtet, seinen Einfluß hoch anschlägt. Geschmeichelt, ein bißchen gelangweilt, überfliegt er die Briefe. Dann schaut er nochmals die Zeitungen durch, konstatiert befriedigt, daß man in der englischen, in der französischen Presse seinen gestrigen Artikel zitiert, kommentiert. Er ist ein geübter Leser, wenige Blicke genügen ihm, sich zurechtzufinden. Mechanisch nimmt er nochmals die »Nachrichten« zur Hand; unangenehm überrascht ertappt er sich, wie er den Artikel dieses Sepp Trautwein ein zweites Mal liest und gründlich. Blödsinn. Imponieren ihm die Stilübungen seiner früheren Kollegen? Kratzen sie ihn? Entschlossen unterbricht er die Lektüre, legt die Zeitung beiseite.
Steht auf. Geht ins Badezimmer, seine Toilette zu beenden. Kritisch beschaut er das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensieht. Es ist ein starkes, männliches Gesicht, man begreift gut, daß und warum es vielen Menschen gefällt. Ihm gefällt es heute nicht. Er hat sich viel mit physiognomischen Dingen abgegeben und weiß, daß der einzelne Gesichtszug, losgelöst von den andern, nichts aussagt über das Wesen des Ganzen, daß es der Intuition, daß es eines weisen Herzens bedarf, um das Antlitz als Ganzes zu verstehen. Dennoch mustert er jetzt, sie genau abschätzend, jeden für sich, die Züge, aus denen das Gesicht im Spiegel sich zusammensetzt. Er sieht die starke, breite Stirn, nur wenig gefältelt, die grauen Augen, über ihnen volle Brauen, unter ihnen Andeutungen von Säcken, er sieht die kleine, gerade Nase, die breiten Backenknochen, den langen, gutgeschnittenen Mund, das nicht sehr starke Kinn, das Ganze sitzend auf einem ziemlich kurzen Hals über breiten Schultern. Dichtes, blondes Haar,kaum ein weißes darunter, trotz der siebenundvierzig Jahre. Ein männliches Gesicht. Aber wenn das Herz kritisch gestimmt ist wie das seine heut, dann ist es eben doch kein männliches Gesicht. Bald wird es schwammig sein, das Alter wird verräterisch enthüllen, wieviel Weibisches, Launisches hinter dieser breiten Stirn steckt. In fünf Jahren wird er das Gesicht einer alten Frau haben. Erich Wiesener zuckt ein ganz klein wenig mit den Achseln, lächelt das Gesicht im Spiegel verächtlich an, strafft es, beißt die kleinen Zähne zusammen, spannt den Körper. Dann lächelt er stärker, amüsiert über sich selbst, und zieht seinen schwarzen, weiten, kostbaren Schlafrock an, der durch den Gegensatz seiner Üppigkeit die Männlichkeit des Gesichtes unterstreicht. So, ein Mittelding zwischen einem römischen Kaiser und einem Samurai, geht er in sein Arbeitszimmer.
Er setzt sich vor den riesigen Schreibtisch, genießt den Anblick des schönen Raumes und des anstoßenden Bibliothekzimmers. Er kennt Paris gut, schon vor dem Krieg hat er hier gelebt, auch die meisten Jahre nach dem Krieg hat er hier verbracht, als Korrespondent seiner »Westdeutschen Zeitung«. Erst bewohnte er ein armseliges Zimmer in einem Hotel des Quartier Latin, dann zwei bescheidene Räume in der Gegend des Montparnasse, dann drei in der Gegend der Étoile, jetzt hat er hier in der Gegend des Eiffelturmes ein schönes, reich und mit der Mühe langer Jahre ausgestattetes Appartement in einem hohen, neuen Haus, mit weitem, herrlichen Blick über die Stadt, die er liebt. Wohlgefällig gleitet sein Aug über die silbrig grauen Dächer, dann zurück, die Reihen seiner Bücher entlang.
Ist er eitel? Es gibt viele Arten von Eitelkeit. Es
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