Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
verderbe.
Er schrak hoch, als er vom Vorplatz Stimmen hörte. Er hatte ganz vergessen, daß Spitzi sich angesagt hatte, undwährend Arsène, der Diener, Herrn von Gehrke ablegen ließ und hereingeleitete, hatte er gerade noch Zeit, das Buch, sein Gewissen, im Safe zu verschließen und in den Arbeitsraum zurückzukehren.
»Sie haben Frühling gemacht?« begrüßte er seinen Gast, dessen Anzug musternd. Ja, Spitzi hatte das Wetter gut genug gefunden, sich, zum erstenmal in diesem Jahr, etwas heller zu tragen. »Finden Sie die Socken nicht zu hell?« fragte er interessiert. Wiesener fand Spitzis »Schale« besonders hübsch und die Socken allright. Verdammt gut sah der Junge aus, die Rue de Lille konnte mit ihm Staat machen. Heute fiel es Wiesener noch mehr auf als sonst. Übrigens mußte irgendeine Veränderung mit Spitzi vorgegangen sein, doch welche es war, fand Wiesener nicht so schnell heraus.
Immer war um Herrn von Gehrke etwas, was man nicht herausfand. Kein Mensch wußte, wieso er an die Botschaft gekommen war. Vielleicht hatte er was mit einem der Berliner Machthaber, das war häufig die Ursache solcher Karrieren. Allein er sah ganz und gar nicht danach aus. Daß einer der Berliner Bonzen hinter ihm stand, war gewiß. Sonst wäre er nicht zuzeiten so maßlos frech. Im ganzen machte das Geheimnis um Spitzi ihn Wiesener nur sympathischer, die Mischung von Phlegma, Liebenswürdigkeit und Frechheit sprach ihn an, und heute, da er noch strahlender aussah als sonst, gefiel er ihm besonders.
»Haben Sie die ›P. N.‹ gelesen?« fragte nach einigem Hin und Her Spitzi. »Haben Sie den Artikel dieses Trautwein gesehen?« Aha, Wiesener hat also richtig getippt. Spitzi kommt wegen der Affäre Benjamin, der Artikel hat sein Phlegma aufgestört. Es ist Wiesener eine Genugtuung, daß der Artikel auch andere beschäftigt.
Er war gespannt, was man wohl von ihm wollte. Wollte man, daß er Trautwein erwidere? Er wußte selber nicht, ob er wünschte, daß man das wolle. Es reizte ihn, gegen seine alten Konkurrenten loszugehen, aber hatte er sich nicht entschlossen,sie nicht ernst zu nehmen? Er antwortete ausweichend. »Mit eurem Fritzchen Benjamin habt ihr euch wieder hübsch in die Nesseln gesetzt«, lächelte er.
»Sie sind ein so netter Mensch, Wiesener«, erwiderte Herr von Gehrke, auch er lächelnd, lässig, keineswegs aggressiv, »aber warum sagen Sie immer ›ihr‹ und ›euch‹? Sagen Sie doch ›wir‹ und ›uns‹. Ich bin an der Geschichte mit Fritzchen genauso schuldig und unschuldig wie Sie.«
Wiesener verbot es sich, zu lächeln. Jetzt war er gewiß, daß Spitzi der Verantwortliche in der Sache Benjamin war, und darüber hinaus vermutete er, daß die Folgen dieser Affäre Spitzi ernstlich gefährdeten.
Der war wirklich unangenehm überrascht davon, daß man von der Sache Benjamin so viel hermachte. Gewiß wird er, gestützt auf sein »Verdienst«, auf seine »Tat«, sich aus der Chose herausziehen, aber er hatte in der Rue de Lille ein paar alberne Reden mit anhören müssen, und es bedurfte seines ganzen frechen und liebenswürdigen Phlegmas, um diese Reden zu überhören. Gut nur, daß er mit den neuen Zähnen besonders strahlend lächeln konnte.
Wie die Dinge lagen, hielt er es für am besten, im Interesse des Reichs sowohl wie in seinem eigenen, die Affäre Benjamin deutscherseits nach Möglichkeit zu bagatellisieren. In der Rue de Lille teilte man diese seine Meinung. Allein Berlin hatte sich noch nicht geäußert. Berlin pflegte dem Gefasel der Emigranten zuviel Gewicht beizulegen, sich davon nervös machen zu lassen; man konnte nie wissen, wie man dort reagieren wird. Dieser Trautwein mit seiner vulgären Manier, die Dinge grob bei ihren pathetischen Namen zu nennen, hatte da einen unangenehmen Coup gelandet. Wahrscheinlich werden sie in Berlin, statt auf diesem Ohr taub zu bleiben, irgendeine Gegenaktion starten wollen. Worum es Spitzi jetzt ging, das war, Wiesener zu bewegen, daß auch er der Botschaft und dem Propagandaministerium rate, das Geschwätz der Emigranten und die ganze Sache Benjamin auf die leichte Achsel zu nehmen.
Wiesener selber hielt es für richtig, sich totzustellen; Lorbeeren waren in dieser Sache keine zu holen, auch für ihn nicht. Da indes solche Passivität genau das war, was Spitzi von ihm wünschte, konnte er sich bitten lassen und das als eine Gunst gewähren, was ohnedies zu tun seine Absicht war. »Ja«, erwiderte er also, »ich habe den Artikel gelesen. Darum
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